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Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm

Titel: Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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stürzte sich Grace mit der gleichen Intensität auf die Gartenarbeit, die sie immer in der Notaufnahme gezeigt hatte. Wenn Lirith wollte, daß sie dies erlernte, dann würde sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten. Falls Naida diesen neuen Feuereifer bemerkte, behielt es die Alte für sich. Sie zeigte Grace, wie man einen Ast beschnitt, damit noch mehr Äste wachsen konnten, oder wie man die Samen der Nebelmalve sammelte, die Schwangerschaften verhindern konnten; sie lernte die medizinischen Eigenschaften eines Dutzends anderer Kräuter kennen.
    Als die Sonne hinter der Schloßmauer versank, saßen die beiden auf der Bank und tranken aus der Flasche, die Naida immer gefüllt hielt.
    »Wie habt Ihr das eigentlich geschafft, Naida?«
    Grace stellte die Frage, bevor sie sich eigentlich bewußt dazu entschieden hatte. Die Alte hob eine dünne Augenbraue. Jetzt konnte Grace nicht mehr zurück.
    »Mit einem Mann davonzureiten, den Ihr nie zuvor gesehen habt, meine ich.«
    Naida verschränkte die schmutzigen, faltigen Hände im Schoß. »Ich mußte es tun. Das Wohlergehen meiner Familie hing davon ab. Mein Brautpreis reichte aus, um sie jahrelang mit Brot zu versorgen.«
    »Aber hattet Ihr denn keine Angst?«
    Das rief schallendes Gelächter hervor. »Ich war starr vor Angst! Den ganzen Weg nach Toloria habe ich mich auf meinem Pferd übergeben. Und ich werde niemals unsere Hochzeitsnacht vergessen. Armer Ederell. Er mußte seine Braut unter dem Ehebett hervorlocken. Aber er war immer ein guter Mann, der mich vom ersten Tag an sanft behandelte, und in all unseren Jahren hob er nicht einmal die Stimme.« Sie kniff die Augen zusammen. »Aber es tat weh. So sanft er auch war, es tat schrecklich weh.«
    Grace blickte auf den Stiel in ihrer Hand hinunter. Er endete an einer fahlen Blume. Nebelmalve. Sie verströmte einen scharfen, metallischen Duft. Erinnerungen an das Waisenhaus stiegen in Grace auf, wie immer schockierend in ihrer Klarheit, und das nach all diesen Jahren. Sie sah sich selbst, neun Jahre alt, wie sie in das staubige, streifenförmige Licht im Schuppen hinter dem Heim trat. Sie hörte wieder das leise Stöhnen, das an ein waidwundes Tier erinnerte, sah Ellen Nickel zusammengekrümmt in der Ecke hocken.
    Ellen?
    Geh weg, Grace.
    Ellen, was tust du hier?
    Ich muß es rauskriegen.
    Was rauskriegen?
    Du würdest … es nicht verstehen.
    Doch, ich verstehe es. Es ist etwas, daß sie in dich reingetan haben.
    Oh, Grace, es tut so weh …
    Erst als sie näher herangetreten war, hatte sie den Draht gesehen. Und das Blut. Grace hatte Lumpen geholt, um den Blutstrom aufzuhalten. Es war das erste Mal, daß sie versuchte, ein Leben zu retten. Das erste Mal, daß sie scheiterte. Aber nicht das letzte Mal.
    »Kindchen?«
    Grace tauchte aus dem finsteren See der Erinnerungen auf. Naida war ein Jahr jünger als Ellen Nickel gewesen. In Colorado wäre Ederells Tat – vorausgesetzt, sie wäre jemals entdeckt worden – ein Verbrechen gewesen. Auf dieser Welt war es eine Sache, die Brot auf den Tisch des Hauses brachte.
    »Ich glaube nicht, daß ich es tun könnte«, sagte sie.
    Naida ergriff Graces Hand. Ihre Berührung war so warm und trocken wie Erde in der Sonne. »Aber sicher könntet Ihr, Kindchen. Ihr müßt Euch nur dazu entscheiden, Euch für einen anderen aufzugeben – alles von ganzem Herzen zu opfern.«
    »Aber verliert man sich nicht, wenn man das tut?«
    Naida lächelte. »Aber nicht doch, Kindchen. Genau dann findet man sich erst.«
    Am Abend streifte Grace durch die Korridore des Schlosses und dachte über Naidas Worte nach. In ihnen lag eine gewisse Schönheit, vielleicht sogar eine Art Wahrheit. Aber nach einer Stunde hatte Grace mit kühler Logik den fundamentalen Fehler gefunden: Was war, wenn es im Inneren nichts mehr gab, was man finden konnte?
    Erst als sie stehenblieb, wurde sie sich bewußt, daß sie vor der Tür zu Durges Gemach stand. Sie hatte den Ritter schon tagelang nicht mehr gesehen. Natürlich wäre er sofort gekommen, hätte sie ihn rufen lassen. Aber manchmal brauchte man einen Freund und keinen Diener. Grace hob die Hand.
    Bevor sie anklopfen konnte, drang ein gedämpftes Klirren durch die Tür – als wäre etwas zerbrochen. Instinkt verdrängte Schicklichkeit, und sie öffnete die Tür und trat ein. Er kniete auf dem Boden und kehrte mit einem Handfeger grüne Glasscherben auf. Rauch und Schwefelgestank füllten die Luft und ließen Graces Augen brennen.
    »Durge, alles in

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