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Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm

Titel: Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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nicht früher erkannt hatte. Aber sie wußte nur, wie man zerstörte Leiber wieder zusammenflickte, keinen zerstörten Verstand. Aryn begann wieder zu weben und summte dabei leise eine mißtönende Melodie. Grace verstand nur wenige Worte.
    Mein Liebster kommt im Frühling zu mir, ich web’ eine Girlande aus Gold …
Und wenn er dann im Herbst begraben wird,
ein Leichentuch gegen die Kälte.
    Grace kniete neben Aryns Stuhl nieder. Es würde eine so primitive Operation wie mit einem stumpfen Skalpell werden – sie hatte weder die Ausbildung noch den nötigen Instinkt für eine derartige Prozedur –, aber sie würde es versuchen müssen. Sie war zwar Notärztin, aber sie wußte genug über Psychiatrie, um zu erkennen, daß Aryn nicht die Webarbeit in Ordnung bringen wollte.
    »Aryn«, sagte sie leise, aber eindringlich. »Aryn, hör mir zu. Den Wandteppich so hinzubekommen, wie du willst, wird es nicht besser machen. Ich weiß, daß etwas mit dir geschehen ist. Am Wintersonnenwendabend.«
    Aryn hörte mit der Bewegung auf. Sie starrte mit steifem Körper ins Leere.
    Du solltest sie allein lassen, Grace. Du könntest sie auf diese Weise in den Nervenzusammenbruch treiben.
    Aber morgen würde sie Calavere verlassen. Das war ihre einzige Chance, um zu verstehen. »Was ist es, Aryn? Was willst du wirklich in Ordnung bringen?«
    Schweigen. Grace zögerte, dann griff sie in die Höhe und berührte Aryns Schulter.
    Ein Aufschrei wie von einem waidwunden Tier hallte durch das Gemach; Grace sprang auf die Füße. Aryn warf den Kopf zurück, ihr Rücken bog sich durch, und ihr Schrei hallte von dem harten Stein zurück. Schließlich verwandelte sich ihre Qual in Worte.
    »Ich habe ihn umgebracht!«
    Zuerst glaubte Grace, sie meinte Garf, dann sank die Baronesse zusammen und stieß zwischen den Schluchzern Worte aus.
    »Leothan. Ich habe ihn getötet, Grace. Mit meiner Magie habe ich ihn getötet. Am Wintersonnenwendabend.«
    Grace schüttelte den Kopf, versuchte zu verstehen. Sie hatte schon lange nicht mehr an Leothan gedacht – den jungen Lord, der einst Aryns Aufforderung zum Tanz verschmäht hatte. Aber sie erinnerte sich vage, daß Leothan zu den Toten des Wintersonnenwendfestes gehört hatte. Sie war davon ausgegangen, daß die Feydrim ihn getötet hatten, so wie die Ungeheuer in dieser Nacht ein Dutzend anderer Menschen getötet hatten.
    Aryns rechter Arm zuckte wie der gebrochene Hals eines Schwans gegen die Kettfäden des Webstuhls. Grace biß die Zähne zusammen; das war ein Schmerz, den sie kaum lindern konnte. Trotzdem wandte sie sich wieder der Baronesse zu.
    »Erzähl es mir, Aryn. Bitte.«
    Die junge Frau nickte, dann berichtete sie mit zögernder Stimme eine Geschichte, die Graces Blut in den Adern gefrieren ließ: wie Leothan Aryn in einen Nebenraum gelockt hatte, wie er sie hatte vergewaltigen wollen und sich dabei als Eisenherz zu erkennen gab, und wie schließlich die Wut aus Aryn herausströmte und Leothans Hirn in Brei verwandelte.
    Als Aryn zum Ende kam, wiegte sie sich auf dem Stuhl vor und zurück. Grace umarmte sie unbeholfen und hielt den schmalen, zitternden Körper der Baronesse fest.
    »Ist schon gut, Aryn«, murmelte sie. »Du hast getan, was du tun mußtest, und es ist vorbei.«
    »Nein, Grace.« Krampfähnliches Schluchzen erschütterte den Körper der jungen Frau. »Du verstehst nicht. Ich habe ihn getötet.«
    »Du mußtest dich schützen, Aryn.«
    »Aber war das der einzige Weg?«
    Grace schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.«
    »Deine Gabe ist das Heilen, Grace. Das hat Ivalaine gesagt.« Die Baronesse packte ihre verkümmerte Hand. »Aber was ist, wenn ich nur anderen schaden kann? Was ist, wenn das meine Gabe ist?«
    Nein. Aryn war genug von anderen bestraft worden für etwas, das jenseits ihrer Kontrolle lag. Grace würde nicht zulassen, daß sie sich selbst quälte. Ihre Macht machte sie genausowenig zu etwas Bösem wie ihr deformierter Arm. Sie ließ die Baronesse los.
    »Du benutzt die Macht, die du hast. Verstehst du, Aryn? Du tust, was du mußt, um überleben zu können, und du benutzt dazu jede Fähigkeit, die dir zur Verfügung steht.« Sie packte Aryns Schultern und drückte zu. Hart. »Verstehst du?«
    Aryn starrte sie mit tränenverschmiertem Gesicht an. Dann erzitterte sie ein letztes Mal, und ihr Körper entspannte sich. Ein Leuchten trat in ihre blauen Augen.
    »Ja, Grace«, flüsterte Aryn. »Ja, ich verstehe. Ich muß die Macht benutzen, über die ich

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