Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
stellte sich zwischen den Drachen und die Ritter, sah auf und drohte der Kreatur mit beiden Fäusten, während sie erneut schrie. Grace wartete darauf, daß der Drache den Rachen öffnete und das kleine Mädchen mit einem Bissen verschlang.
Statt dessen wich er zurück, und zum ersten Mal trat ein deutlich erkennbares Gefühl in die Augen der Kreatur. Es war Abscheu.
»Was bist du doch für ein garstiges kleines Ding!« Die Stimme des Drachen steigerte sich zu einem Kreischen. »Er hätte dich zu Asche verbrennen sollen. Ich begreife nicht, warum er es nicht getan hat. Aber ich werde das zu Ende führen, was er begonnen hat.«
Tira bewegte sich nicht. Sie schaute nur unbewegt zu dem Drachen hoch.
»Nein!«
Grace riß den Kopf herum und sah, wie Travis nach vorn trat; der Blick hinter der Brille war seltsam entrückt. Er hob die rechte Hand, spreizte die Finger und hielt sie so.
»Ihr werdet ihr nichts tun.«
Unglaublicherweise trat Sfithrisir einen Schritt zurück. »Du!« Seine Stimme war jetzt ein Flüstern; es klang wie das Sterben eines Feuers. »Du bist hier! Aber wie? Das … das habe ich nicht gewußt.«
Travis senkte die Hand. »Warum solltest du auch?«
»Warum ich es wissen sollte?« rief der Drache empört. »Kein Hort ist so groß wie der meine. Nicht einmal Eregun, der erste Sohn Agamars, verfügte in den Tagen vor dem Fall über soviel Wissen wie ich – ich, der seit mehr Äonen wartet und lauscht, als du dir vorstellen kannst. In meinem Hort sind mehr Geheimnisse als Sterne am Himmel.«
Der Wind zerzauste Travis’ Haar. »Und was habt Ihr davon?« Seine Stimme war so leise, daß man ihn kaum verstehen konnte. »Welchen Nutzen haben Geheimnisse, wenn man sie nicht mit anderen teilt?«
Die Erwiderung des Drachen war scharf und spöttisch. »Weißt du das denn noch nicht? Geheimnisse bedeuten Macht. Und es gibt auf dieser Welt niemanden, der mehr Geheimnisse kennt als ich.«
Travis zuckte mit den Schultern. »Ich komme nicht von dieser Welt.«
Dicke Lider senkten sich über Sfithrisirs Augen, bis sie zu Schlitzen geworden waren. »Ja, das sehe ich. Darum wußte ich auch nichts von dir. Aber jetzt weiß ich Bescheid, und ich weiß, daß das Ende dieser jämmerlichen Schöpfung – dieser Welt, wie du sie nennst – nicht mehr weit sein kann. Nicht, seitdem du gekommen bist, Runenbrecher.«
Etwas schnitt wie mit einer Rasierklinge in Graces Herz. Sie blickte zu Aryn und Lirith hinüber. Die blauen Augen der Baronesse waren weit aufgerissen, aber Liriths Blick war so wenig zu deuten wie der des Drachen. Dann blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken, da sich Tira umdrehte, vor dem Drachen floh und sich ihr entgegenwarf. Grace kniete nieder, umarmte das Mädchen mit aller Kraft und strich ihr wildes, feuerrotes Haar glatt.
Durge und Beltan wichen zurück, aus dem Bann des Drachen entlassen. Melia begab sich an Beltans Seite, der einen Arm um ihre winzige Gestalt legte.
»Und was jetzt, Sfithrisir?« fragte sie mit dünner, aber klarer Stimme. »Was wollt Ihr mit uns machen?«
Aus dem Drachenrachen quoll Rauch. Dann schien die Kreatur zu grinsen. »Ihr habt mir etwas gegeben, was ich noch nicht hatte, ein Geheimnis, das mir unbekannt war. Das ist mir schon seit vielen Jahrhunderten nicht mehr passiert. Darum bin ich großzügiger Stimmung.«
Melia kniff die Augen zusammen. »Großzügig? Seid Ihr sicher, daß Ihr einer der Gordrim seid, Sfithrisir?«
»Oh, da bin ich mir völlig sicher«, fauchte der Drache. »Und wegen deiner scharfen Zunge sollst du die erste sein, Melindora Nachtsilber. Hier ist dein Geheimnis: Das, was du dir am dringlichsten ersehnst, wirst du niemals haben können. Jeder, den du liebst, ist zu dem Tod verdammt, den alle Sterblichen erleiden, und so wird es für alle Zeiten sein.«
Grace hatte Melia schon wütend, müde und verletzt gesehen – sogar schon ängstlich. Aber das hatte sie noch nie gesehen – diesen Ausdruck voller Entsetzen und Verzweiflung. Die Lady schlug die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu ersticken, dann wandte sie sich ab und vergrub ihr Gesicht an Beltans breiter Brust.
Der blonde Ritter starrte zu dem Drachen hoch. »Was habt Ihr ihr angetan?«
Der Drache spreizte die Schwingen. »Ich habe ihr nur die Wahrheit gesagt, Ritter, so wie ich sie jetzt dir sagen werde. Die Person, die du liebst, wird sich in dem Augenblick, in dem du ihr deine Gefühle gestehst, von dir abwenden.«
Beltan blieb der Mund offenstehen, aber er sagte kein
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