Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
Augen hinter der Brille spiegelten den verhangenen Horizont wider.
Ihr beide sucht die Flammenfestung … wisset, daß ihr dort sterben werdet …
Grace fröstelte trotz der steigenden Temperaturen. Vor ihr auf Shandis saß das viel zu dünne Mädchen in dem zerlumpten Kleidchen.
Es ist das Mädchen, das dich vor deinem Ende verlassen wird – das verspreche ich dir …
Tira sah auf, als würde sie ihren Blick spüren, und das rote Haar fiel aus dem zur Hälfte vernarbten Gesicht. Sie grinste, dann beugte sie sich wieder über ihre angesengte Puppe und spielte weiter.
Soll ich dir von dem Mädchen erzählen? Fragst du dich nicht, warum sie den Namen eines Runenmeisters sagte …
Das Wort spukte Grace noch immer im Kopf herum, mit Perfekter, klarer Stimme gesprochen. Mindroth. Aber wieso kannte Tira diesen Namen – ein Name, der von ihnen allen überhaupt nur Travis, Melia und Falken bekannt war? Und wieso hatte Tira vor diesem Augenblick nie auch nur einen Zusammenhängenden Laut von sich gegeben? Genausowenig wie in der vergangenen Nacht, in der Grace wiederholt versucht hatte, sie zum Sprechen zu bringen. Grace hob die Hand, zögerte und ließ dann zu, daß sie Tira über ihr helles, verfilztes Haar strich. Sie wollte sich selbst davon überzeugen, daß alles, was der Drache gesagt hatte, eine Lüge gewesen war, obwohl ihr diese schreckliche Sicherheit, die sie manchmal verspürte, verriet, daß alles wahr gewesen war.
Am späten Morgen wagte sie es schließlich, das Schweigen zu brechen; sie steuerte Shandis auf Falkens schwarzen Hengst zu, um ihn über den Drachen zu befragen.
»Ich weiß nur wenig über die Gordrim, das ich Euch sagen kann«, erwiderte er, und seine behandschuhte Hand griff die Zügel fester. »Wie Sfithrisir schon sagte, sammeln die Drachen mit Begeisterung Geheimnisse, aber sie teilen ihr Wissen nur selten.«
Grace runzelte die Stirn. »Sie. Wollt Ihr damit sagen, daß es noch mehr von ihnen gibt?«
»Früher ja. Agamar war der erste Drache, ein Weibchen, und sie lebte in Sinfathimal, dem Meer aus Zwielicht, das existierte, bevor der Weltenschmied die Erste Rune sprach und das Grau in Licht und Dunkel teilte und die Welt Eldh erschuf, damit sie sich zwischen ihnen drehen konnte. Als Agamar sah, was der Weltenschmied getan hatte, als sie diese« – mit einer weit ausholenden Geste umschloß der Barde die sie umgebende Welt – »Schöpfung sah, geriet sie in Zorn. In ihrer Wut gebar sie eine große Brut, die sie nach Eldh entsandte, wo sie gegen die Kinder des Weltenschmieds, die Alten Götter und das Kleine Volk, Krieg führen sollte. Der Großteil von Agamars Brut bestand aus niederen Kreaturen, hauptsächlich Schattenschlangen. Aber ein Dutzend ihrer Nachkommen war fast so stark wie sie selbst. Osthrasa, die Sfithrisir als seine Mutter bezeichnete, war vermutlich die gefürchtetste und schrecklichste von ihnen allen.«
Grace dachte über die gezischten Worte des Drachen nach. »Glaubt Ihr, er hat die Wahrheit gesagt?«
Falken zuckte mit den Schultern. »Es heißt, Drachen lügen nicht, da die Wahrheit ihren Zielen viel besser dient. Sicherlich gibt es keine weiseren Wesen als die Gordrim.«
»Und keine bösartigeren«, sagte Melia. Die Lady hatte sich zu ihnen gesellt. »Drachen sagen die Wahrheit. Aber sie sagen nie die ganze Wahrheit, und das, was sie sagen, sagen sie auf eine Weise, die vergiften und an der Seele nagen soll. Drachen wollen nicht mehr als die ganze Schöpfung zerstören und in die gestaltlosen Nebel vor Anbeginn der Zeit zurückkehren. Vergeßt das nie, wenn ihr über Sfithrisirs Worte nachgrübelt.«
Falken seufzte. »Für dich gilt das aber auch, Melia.«
Die Lady preßte die Lippen zusammen, dann wandte sie den Blick ab und sagte kein Wort mehr.
Kurz vor der Abenddämmerung des ersten Tages nach Verlassen des Tals stießen sie auf das erste Zeichen der Flammenpest. Während einer Erkundung erspähte Beltan im Schatten eines Berges ein Dorf. Aber als sie den Weg erreichten, der ins Dorf führte, entdeckten sie etwas, das sie anhalten ließ.
Es war eine Vogelscheuche aus Stöcken und Lumpen, die an einem in den Boden gerammten Pfahl hing. Die primitive Nachbildung war in Brand gesteckt und wieder gelöscht worden, bevor die Flammen sie ganz verschlingen konnten. Selbst ohne Worte war die Botschaft der Vogelscheuche eindeutig: Hier herrscht die Flammenpest.
Sie hielten die Umhänge vor die Gesichter, um sie vor dem Wind zu schützen, der Asche
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