Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
Lirith hatten ihre Aufgabe, und Grace hatte die ihre. Und es ging nicht nur allein darum, die politische Situation auf Spardis zu ergründen.
Wieder ging sie in Gedanken jeden einzelnen Aspekt von Melias Zustand durch, den sie hatte feststellen können. Atemfrequenz und Puls waren verlangsamt, sie verriet keine Schmerzreaktion. Allerdings reagierten ihre Pupillen noch immer auf Licht, und in ihren Extremitäten gab es keine Anzeichen für reflexartige Spastik. Das war gut – es bedeutete, daß kein Hirnschaden vorlag. Falls Melia überhaupt so etwas wie einen Hirnschaden davontragen konnte.
Denn das war ein Teil des Problems. Melia war keine Sterbliche. Grace hatte nicht die geringste Idee, welchen Einfluß dies auf ihre Physiologie hatte – falls die Lady überhaupt eine Physiologie hatte. Aber Grace blieb nichts anderes übrig, als sie wie jede andere Person auch zu behandeln, und bis jetzt war eine Diagnose unmöglich gewesen.
Sie hatte den Raum untersucht, in dem Melia zusammengebrochen war, aber nichts von Interesse gefunden – ein paar Möbel, einen Wandteppich und die Marmorbüste eines Mannes. Das war alles. Beltan hatte gemeint, daß der Wein schuld sei, aber sie alle hatten davon getrunken, und Lord Siferd war die letzte Person im Schloß, die Melia hätte vergiften wollen. Davon abgesehen hatte Lirith die Weinreste im Pokal mit der Gabe untersucht und keine Spur von Gift gefunden.
Bevor Grace Antworten fand, fand sie ihr Gemach. Seufzend öffnete sie die Tür und trat ein. Travis, der zusammengesunken auf einem Stuhl gesessen hatte, fuhr hoch.
»Nun«, sagte sie, »sie sind weg.«
Er nickte düster.
Grace deutete auf die Tür, die zu Melias Gemach führte. »Wie geht es ihr?«
»Keine Veränderung. Beltan ist bei ihr. Er will noch immer nicht schlafen. Ich glaube, er wartet, bis er über ihr zusammenbricht. Aber Aryn und Tira ruhen sich in dem anderen Gemach aus.«
»Du solltest dich auch ausruhen. Du siehst schlimm aus.«
Er grinste. »Danke.«
»Keine Ursache.«
Travis legte sich auf eine Bettstatt. Grace nahm ihm die Nickelbrille ab und setzte sie auf dem Tisch ab. Dann deckte sie ihn mit einer Decke zu. Sie richtete sich wieder auf, um zu gehen.
»Glaubst du, sie schaffen es?« Seine Stimme war leise und heiser. »Dakarreth den Stein des Feuers abzunehmen?«
Grace drehte sich um. Er hatte die Augen geschlossen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Ja, ich glaube schon. Mir bleibt keine andere Wahl.«
Travis behielt die Augen geschlossen, aber er nickte. Grace sah ihm zu, bis seine Atemzüge tiefer wurden, dann schlüpfte sie leise aus der Tür.
Und nun?
Sie seufzte. Es gab nichts, das sie tun konnte, um Melia zu helfen. Also konnte sie genausogut an ihrer anderen Mission arbeiten, die, die Boreas ihr aufgetragen hatte, auch wenn sie kaum noch wichtig erschien. Scheiterte Falken, würde es egal sein, wer über welche Domäne herrschte. Dakarreth würde sie alle beherrschen. Aber wenn sie wirklich glaubte, daß der Barde es schaffte, dann war es wichtig, herauszufinden, wer dieser neue Regent war und ob er für Königin Inara und Prinz Perseth die besten Interessen im Sinn hatte.
Erneuerte Entschlossenheit setzte in Grace frische Energien frei. Sie marschierte los.
Fünf Sackgassen, ein halbes Dutzend Fragen an Diener, und dreißig Minuten später ging sie im Nordflügel des Schlosses auf eine vergoldete Tür zu. Um welchen Nordflügel es sich genau handelte, wußte sie nicht, da Spardis anscheinend drei davon hatte. Als sie näher kam, kreuzten zwei Wächter in schwarzer, polierter Rüstung die Speere und blockierten ihr den Weg.
»Königin Inara darf nicht gestört werden«, knurrte der eine Wächter.
Grace trat einen schnellen Schritt zurück, damit ihr nicht die Nase abgeschnitten wurde. »Darf ich ihr dann bitte eine Botschaft schicken?«
»Die Königin nimmt während ihrer Trauer keine Botschaften entgegen.«
Sie legte eine Hand an die Brust. »Auf wessen Befehl?«
»Befehl des Regenten. Falls Ihr der Königin eine Botschaft zukommen lassen wollt, dürft Ihr nach der Rückkehr des Regenten darum ersuchen.«
Grace senkte den Kopf, drehte sich um und ging, bevor sie noch von einem Speer durchbohrt wurde. Sie hatte ohnehin nicht damit gerechnet, zur Königin vorstoßen zu können, aber der Versuch war interessant gewesen. Falls Inara wirklich in Trauer war, hätte der Befehl, jede Kommunikation zu unterbinden, nicht von ihr kommen müssen?
Nicht, wenn es eine
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