Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
erklären sollte; sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es selbst richtig verstand. Und es spielte vermutlich auch keine Rolle. Der Schatten ihrer Vergangenheit schoss in die Höhe und griff nach ihr. Bald würde er sie verschlingen – wenn der Dämon ihm nicht zuvorkam. Vielleicht waren sie auch dasselbe.
»Wir können ihn nicht entkommen lassen«, sagte Melia. »Ich muss versuchen, ihn aufzuhalten.«
Die Lady mit den Bernsteinaugen stellte sich mit entschlossener Miene neben der Säule auf die Füße; ihr Kleid flatterte im Sturmwind.
Falken griff nach ihr. »Melia, das kannst du nicht tun. Er wird dich verschlingen!«
»Ich muss es versuchen, mein Lieber.«
Melia ließ die Säule los – und hielt inne, als eine Gestalt aus der Höhe der Etherion nach unten schwebte. Das schwarze Gewand der Gestalt wehte in den Böen. Statt eines Gesichts schaute eine goldene Maske mit gelassenen toten Augen aus der Kapuze des Gewands. Lautlos landete die Gestalt auf dem Balkon.
»Ein Zauberer!«, rief Beltan.
Der Mann in Schwarz schritt mühelos auf sie zu, der Sog des Dämons konnte ihm nichts anhaben. Eine schwarz behandschuhte Hand griff nach der Maske, zog sie zur Seite. Obwohl das darunter liegende Gesicht aus Haut und Fleisch bestand, leuchtete es genauso golden wie die Maske.
»Xemeth!«, stieß Vani erstaunt hervor.
32
Xemeth lächelte. Sein Gesicht war unversehrt und perfekt. Vani schüttelte den Kopf. »Xemeth, bist du das wirklich?«, fragte sie ungläubig.
»In der Tat, Vani. Ich bin es.«
Tränen strömten Vani die Wangen hinunter, bevor der Wind sie fortriss. »Aber Sareth sagte … er sagte, du wärst tot.«
»Sareth hat dich angelogen. Wie du siehst, geht es mir ganz gut. Sogar besser als gut.« Er kam näher.
»Du leuchtest, Xemeth. Was ist mit dir geschehen?«
»Lass uns gehen, und ich werde alles erklären.« Er streckte eine leuchtende Hand aus. »Komm mit mir, Beshala …«
Vanis sonst so scharfer Blick schien plötzlich matt zu sein, ihre Züge wurden ganz schlaff. Sie fing an, eine Hand nach Xemeth auszustrecken.
»Vani, nein«, sagte Grace in einem Tonfall so schneidend wie ein Skalpell. »Xemeth hat den Dämon befreit. Er hat das Blut des Skarabäus getrunken.«
Vani blinzelte, dann riss sie die Hand zurück. Xemeths Lächeln verwandelte sich in ein schleimiges Grinsen.
»Oje«, sagte er spöttisch. »Meine Taten sind bekannt. Was soll ich nur tun?« Er lachte schrill. »Moment, stimmt ja – ich bin der größte Zauberer der Welt. Ich kann tun, was immer ich will.«
Xemeth stieß die Hände in die Höhe. Magie in Form goldener Funken schoss nach oben und traf die Kuppel der Etherion. Ein Donnerschlag ließ die Luft erbeben, schwarze Risse schlängelten sich über den falschen Himmel. Ein durchdringendes Krachen, dann regneten Steintrümmer in die Tiefe.
Grace zog den Kopf ein, dabei hätte sie wissen sollen, was geschehen würde. Die Steine rasten nach unten – und wurden vom Sog des Dämons eingefangen und Teil der ihn umkreisenden Materiespirale.
Sie schaute auf. Ein Loch klaffte in der Kuppel der Etherion, durch das der echte Himmel schimmerte. Noch immer schlängelten sich Risse in alle Richtungen. Sie fragte sich, ob das ganze Gebäude einstürzen würde. Aber das würde dem Dämon nichts ausmachen; das Ding würde die Trümmer einfach auffressen. Xemeth hatte behauptet, dass es nach seiner Gefangenschaft noch immer schwach war, aber mit jedem verschlungenen Gegenstand würde es stärker werden. Und schneller.
Xemeth senkte die Hände, dann blickte er sie erstaunt an. Er lachte wieder. »Das ist wirklich amüsant.« Er richtete den schmelzenden Blick auf Grace. »Aber was haben wir denn hier? Sieht so aus, als hätte sich eine kleine Maus zusammen mit mir durch das Tor geschlichen. Ich werde sie wohl zerquetschen müssen.«
Es blieb keine Zeit zum Handeln. Xemeth schnippte mit dem Finger, goldene Funken schossen durch die Luft. Grace spannte alle Muskeln an, wartete auf die Vernichtung.
Die Säule neben ihr explodierte. Sie zersprang in einen Schauer aus Staub und Steinsplittern – die alle zu der umherwirbelnden Trümmerscheibe flogen. Xemeth stolperte, dann stieß er wieder das schrille Gelächter aus.
Er ist betrunken. Alle Anzeichen sind vorhanden – die Benommenheit, die schlechte Koordination. Das Blut des Relikts hat ihn betrunken gemacht, und er kann seine neue Macht nicht kontrollieren.
»Sieht so aus, als hätte ich nicht getroffen. Aber keine
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