Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
es fühlen. Es verbreitete sich wie eine Schockwelle, wogte durch Luft, Stein und Fleisch.
Was macht er mit ihm?, fragte Aryn.
Grace versuchte ihr zu antworten, aber die Fäden der Weltenkraft verzogen sich und zerrissen, und sie konnte sie nicht fassen. Die Wände der Etherion schienen zu pulsieren. Das Gefüge des Lebens selbst zerfiel.
Xemeth warf triumphierend den Kopf in den Nacken.
»Das ist für dich, Vani!«
Die goldene Magie wurde noch heller und traf den schwarzen Fleck des Dämons. Grace sah zu; Staunen hatte ihre Furcht verdrängt. Xemeth würde es schaffen. Er würde den Dämon mit seiner Magie binden …
Der Mournisch zuckte zusammen und machte einen stolpernden Schritt näher an die Kante heran. Er schüttelte den Kopf, schaute auf seine Hände herab. Noch immer strömte goldenes Licht aus ihnen dem Dämon entgegen.
Der nächste Krampf erschütterte seinen Körper. Sein Fleisch schien auf die gleiche Weise Wellen zu schlagen wie die Wände der Etherion.
»Ich …«, sagte er, aber seine restlichen Worte wurden ihm von den Lippen gerissen.
Grace blinzelte. Xemeths Arme schienen zu wachsen, dehnten sich von seinem Körper dem Dämon entgegen. Er versuchte sie zurückzuziehen.
Er schaffte es nicht. Noch immer reichten die goldenen Strahlen von seinen Händen zu dem Dämon. Seine Finger dehnten sich zu unmöglichen Proportionen und wurden dabei immer dünner.
Xemeth schrie: »Ich kann nicht loslassen!«
Seine Worte waren seltsam verzerrt, ihr Klang wurde zusehends länger wie der schrille Pfiff eines in der Ferne verschwindenden Zuges. Xemeths Arme waren mittlerweile ein Dutzend Meter lang, und seine Finger waren so dünn, dass sie mit den Lichtstrahlen verschmolzen, die in den Dämon einschlugen.
»Was geschieht mit ihm?«, wollte Vani mit entsetztem Gesichtsausdruck wissen.
Plötzlich war Grace alles klar. Der Schrei des Dämons – es war gar kein Ausdruck von Schmerz gewesen. Es war Entzücken. Sareth hatte gesagt, dass die Morndari ein Verlangen nach Blut hatten. Der Dämon hatte seit mehr als zweitausend Jahren in seinem Kerker gehungert. Und jetzt hatte er Blut von unergründlicher Macht geschmeckt.
»Er zieht ihn in sich hinein«, sagte Grace. »Und Xemeth hat nicht genug Kontrolle über seine Macht, um ihn aufzuhalten.«
Xemeths Arme dehnten sich zu spindeldürren Strängen von sechs Metern Länge, als wären die goldenen Strahlen Fäden, mit denen der Dämon sie aufspulte. Seine Schreie schwankten seltsam. Jetzt wurden sein Kopf zusammen mit dem Rest seines Körpers auf den Dämon zugezogen; wie zuvor die Arme verzogen sich auch sein Hals und seine Schultern zu einer grotesken Länge. Sechs Meter. Neun. Fünfzehn. Sein Schrei hallte noch immer durch die Luft, aber er konnte unmöglich noch am Leben sein. Eine solche Verzerrung würde jeden Menschen in Sekunden töten.
Und was bedeutet eine Sekunde, wenn man in ein Schwarzes Loch gezogen wird? Die Zeit bleibt stehen, und eine Sekunde dauert ewig.
Würgend wandte Aryn den Blick ab. Falken drückte ihren Kopf an seine Brust. Melias Gesicht war ernst, und Beltan und Vani sahen mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination zu.
Der gurgelnde Laut von Xemeths Schrei schien zu erstarren, als sich der Augenblick seiner Qual in alle Ewigkeit erstreckte. Nur seine Beine verblieben auf dem Balkon. Oberhalb der Taille war sein Körper zu einem dünnen Seil geworden, das sich zusammen mit den goldenen Strahlen aus Magie dem Dämon entgegenschlängelte.
Es geschah in der Dauer eines Augenblinzelns. Wie ein straff gespannter Draht, dessen eine Ende sich plötzlich löste, schoss Xemeths Körper vom Balkon, peitschte durch die Etherion und wurde in den formlosen Schatten gezogen.
Hell blitzte es auf.
Er war verschwunden.
»Xemeth …«, murmelte Vani; ihre Miene war hart, und doch zeichnete sich dort auch Trauer ab.
»Wusstet Ihr …?« Beltan befeuchtete die Lippen. »Habt Ihr gewusst, dass das passieren wird?«
Vani schüttelte den Kopf. Die Meuchelmörderin hatte nur versucht, ihnen etwas Zeit zu verschaffen, sie hatte nicht wissen können, dass Xemeths neu gefundene Magie – die Macht, nach der er sich immer gesehnt hatte – sein Untergang sein würde.
In der Etherion waren nicht mehr viele Trümmer übrig. Nur noch ein paar Steinchen, und selbst die blitzten auf und verschwanden. Sofort wölbte sich die entgegengesetzte Wand der Halle vor und zerplatzte zu einer Wolke aus weißem Stein, der unverzüglich in eine
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