Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
heutzutage hätte Glinda die Droge beinahe überall bekommen können; Deirdre wusste, dass das nicht der Fall war. Sie hatten es ihr gegeben – um sie zu binden, sie zu kontrollieren. Erst danach hatten sie sich entschieden, sie fallen zu lassen.
Arion hat es mir heute Abend gesagt.
Arion?
Der Türsteher. Alle flüstern es schon. Niemand weiß, wie, aber sie haben sich einen Reinblütigen besorgt. Jetzt brauchen sie keinen von uns mehr …
Wieder musste sie an den Wald denken, den sie gesehen hatte, als Glinda sie küsste, und die solide Mauer, durch die der Türsteher Arion sie geführt hatte. Dann war da die DNA-Analyse von Glindas Hautzellen. Farr hatte gesagt, er hätte ähnliche genetische Muster bei Personen mit außerweltlichen Verbindungen gesehen. Deirdre brauchte keine Blutprobe und kein Labor, um zu wissen, dass es im Surrender Dorothy noch weitere Personen mit dem gleichen genetischen Muster gegeben hatte.
Aber wer waren Glinda und Arion und der Rest von ihnen? Wie lange waren sie in einem Nachtklub in London keine drei Meilen von dem Stiftungshaus der Sucher entfernt unerkannt zusammengetroffen? Und gab es irgendwelche Verbindungen zu dem derzeitigen Fall? Genau wie Glindas Ring führten einen die Fragen nur im Kreis.
Sie seufzte.
»Deirdre?«
Sie wandte sich vom Fenster ab und schaute in grüngoldene Augen, die sie, zumindest einen Augenblick lang, mit ihrer Tiefe und Helligkeit an die von Glinda und Arion erinnerten. Aber das war unmöglich.
Diesmal war Graces Tonfall eher verwirrt als besorgt. »Deirdre, was haben Sie?«
»Es tut mir Leid, Grace. Ich habe nur nachgedacht.« Wenigstens war das keine Lüge, selbst wenn es nicht die ganze Wahrheit war. Aber wie hätte sie Grace gegenüber ihre Gedanken aussprechen können, wenn sie sie nicht einmal sich selbst zugestanden hatte?
Es ist dir vorher noch nie passiert, Deirdre, und vielleicht wird es das auch nie wieder. Aber in dem Augenblick, in dem du Glinda geküsst hast, hast du sie von ganzem Herzen geliebt.
Grace schenkte ihr ein trockenes Lächeln. »Nachdenken. Eine schlechte Angewohnheit. Es war schwer, damit aufzuhören.«
Obwohl ihr so schwer ums Herz war, musste Deirdre leise lachen. Grace Beckett war für sie mehr der Name in einer Akte statt eine Person. Und in dem Chaos der letzten Tage hatte es keine Gelegenheit für eine vernünftige Unterhaltung gegeben. Trotzdem hatte Deirdre plötzlich das Gefühl – es war so mächtig und eindeutig, dass ihr Großvater, der Schamane, ihr gesagt hätte, dass es sich um eine Botschaft ihres Totem-Führers handelte –, dass Grace jemand war, mit dem sie hätte befreundet sein können, hätten es die Zeit und die Entfernung zwischen den Welten zugelassen.
Travis und Hadrian saßen auf den gegenüberliegenden Sitzen, aber sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich leise miteinander. Zweifellos befragte Hadrian ihn über seine Erfahrungen auf der Welt AU-3. Immer der Inquisitor. Vani saß vorn neben dem Fahrer. Ich kann hier besser sehen, hatte sie gesagt.
»Manchmal wünschte ich, ich könnte aufhören zu denken«, sagte Deirdre. »Nur eine Minute lang.«
Graces Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse. »Da gibt es eine Möglichkeit. Ich fürchte nur, Sie wird Ihnen nicht besonders gefallen.« Sie hob die Hand, zog die Halskette unter ihrem Pullover hervor und spielte gedankenverloren mit dem gezackten Anhänger.
»Ich habe ihn noch nie aus dieser Nähe gesehen«, murmelte Deirdre. »Nur auf Fotos.«
Grace schloss die Finger fest um den Anhänger. »Wovon sprechen Sie?«
»Ihre Halskette.«
Verwirrung und Begreifen flackerten wie Tag und Nacht über Graces Züge. »In der Nacht, in der ich Farr kennen gelernt habe, hat er mir erzählt, dass sie an solchen Runen interessiert sind. Die Eisenherzen. Ich weiß nicht, warum ich sie nie Travis gezeigt habe. Er würde vermutlich von einigen die Bedeutung kennen. Vielleicht … vielleicht wollte ich es nicht wissen.« Sie ließ den Anhänger los. »Aber Sie kennen sie, richtig?«
Deirdre schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich weiß nicht, was die Runen symbolisieren. Aber eine Sache wissen wir. Sie haben von Travis’ Freund Jack Graystone gehört?«
Ein steifes Nicken.
»Er lebte jahrhundertelang unter verschiedenen Namen in London; unter anderem nannte er sich James Sarsin. Dann, so um 1880, brannte sein Buchladen ab, und er verschwand. Aber wir fanden ein altes Tagebuch, das teilweise noch zu lesen war.
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