Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
In dem Tagebuch war die Zeichnung von einem Schwert. Ein mit Runen bedecktes Schwert.«
Grace strich über den Anhänger. »Das Schwert, von dem dieses Stück Metall stammt.« Es war keine Frage.
»Im Kofferraum dieser Limousine sind ein paar Akten, und in einer davon ist eine Kopie der Zeichnung. Ich zeige sie Ihnen, wenn wir die Gelegenheit dazu haben.«
»Danke. Das würde ich mir gern ansehen.«
Der Wagen wurde langsamer. Dann sagte Grace leise: »Wissen Sie, es ist kein Segen. Auf eine andere Welt versetzt zu werden.«
Deirdre dachte darüber nach. »Was ist es dann?«
Grace schob die Kette wieder unter den Pullover, gab aber keine Antwort.
Die Limousine hielt an. Farr stellte Travis noch eine letzte Frage, die Deirdre nicht mitbekam. Es gab so vieles, das ihnen über Graces und Travis’ Erfahrungen verborgen bleiben würde, weil ihnen die nötige Zeit fehlte. Und wenn ihr Plan funktionierte, würden sie ihre beiden wichtigsten Objekte verlieren. Was für eine Art von Sucher war sie bloß?
Andererseits hatte sie sich in letzter Zeit oft gefragt, ob sie überhaupt noch immer zu den Suchern dazugehörte. Die Philosophen hatten sich nicht dazu geäußert. Sicher, Farr hatte für sie in diesem Fall einen Dispens erreicht; sie brauchten die Philosophen nicht um Erlaubnis zu fragen. Trotzdem, das Schweigen war … seltsam. Als sie im Hotel das Stiftungshaus in London angerufen hatte, hatte Sasha auf seltsame Weise kurz angebunden geklungen, als sie erklärte, dass weder für Deirdre noch für Hadrian eine Nachricht von den Chefs der Sucher vorlag.
Du tust das Richtige. Es ist besser, sie gehen zu lassen, als sie Duratek zu überlassen.
Aber es war mehr als das. Travis und Grace wollten auf die Welt zurückkehren, die sie Eldh nannten. Und sie hatte nun wirklich nicht das Recht, ihnen das zu versagen. Vielleicht lautete die Frage nicht, welche Art von Sucher sie war, sondern was für ein Mensch.
Die Wagentür öffnete sich, Sonnenlicht flutete herein. Eine schlanke, schwarze Silhouette zeichnete sich gegen den hellen Schein ab.
»Wir sind da«, sagte Vani.
Deirdre stieg aus und wartete auf dem Bürgersteig, während die anderen folgten. Farr schloss die Tür der Limousine, dann betraten sie gemeinsam einen dunklen Laden.
Kühles Glockengeläut ertönte, als sich die Tür hinter Deirdre schloss. Wind und Vogelgezwitscher schwebten in der duftenden Luft, und einen Augenblick lang war sie der festen Überzeugung, erneut in einem Wald zu stehen, den es unmöglich geben konnte. Dann entdeckte sie die kleinen Stereolautsprecher an den Wänden und die Drähte an der Decke, die die knorrigen Äste hielten.
Ein Wasserfall aus blauen Perlen klapperte, teilte sich.
»Nun«, sagte eine heisere Stimme, »ist auch Zeit, dass ihr alle kommt. Die Karten verheißen Ärger.«
Und schwarze Finger mit langen roten Nägeln winkten sie heran.
7
Sie versammelten sich in einem gemütlichen Raum hinter dem Ladenlokal. Kleine Fenster waren mit schwerem Samt verhüllt, das einzige Licht kam von den überall verteilt stehenden Kerzen. Auf einem runden, mit eingeschnitzten mystischen Symbolen versehenen Tisch lagen Tarotkarten in einem komplizierten Muster. Wie Deirdre nur zu bewusst war, war es in der Außenwelt beinahe Mittag, doch hier, in diesem Raum, war es vermutlich immer Mitternacht.
»Marji«, sagte Grace mit einem zögernden Lächeln. »Es ist schön, dich wieder zu sehen.«
Marji lachte, ihre Zähne hoben sich blendend weiß von den rubinroten Lippen ab. »Aber natürlich ist es das, Königin. Aber habe ich dir nicht gesagt, dass wir uns wieder sehen werden? Das ist Schicksal – keine Frage. Jetzt setzt euch. Ich weiß, dass wir uns über vieles unterhalten müssen.«
Marji, die Drag Queen, machte mit einem schlanken, dunklen Arm eine alles umfassende Geste, und als hätte sie die Macht eines Zaubers gehabt, fand sich Deirdre plötzlich genau wie die anderen auf einem Stuhl wieder.
Marji stand vor dem letzten leeren Stuhl. Sie trug ein schräges Ensemble, das aus einem hellgrünen Minikleid, einem mit Ziermünzen bestickten, kurzärmeligen Dinnerjackett und einer Halskette mit riesigen falschen Perlen bestand. Deirdre verspürte leichten Neid. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so sehr wie ein Mädchen ausgesehen.
»Ich habe euch heute hier versammelt«, sagte Marji unheilvoll, »um euch den letzten Willen und das Testament eures kürzlich verstorbenen Urgroßvaters vorzulesen.«
Fünf Augenpaare
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