Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
Herrlichkeit«, sagte Melia in einem Tonfall, als würde sie zu einem geliebten, aber etwas anstrengenden Kind sprechen, »dass mir der Meister des Tores bis heute den Zutritt zum Ersten Kreis verweigert und Euch auch nicht meine Bitte um eine Audienz übermittelt hat.«
»Und ich glaube, jetzt kennen wir auch den Grund dafür«, sagte Falken. »Der Meister muss sich mit den Scirathi verbündet haben. Diese Zauberer wollten nicht, dass Ihr die Wahrheit über die ermordeten Götter erfahrt, Eure Herrlichkeit, und sie haben jeden, der Euch hätte warnen können, daran gehindert, Euren Palast zu betreten. Aber der Gott Misar muss den Verrat des Meisters entdeckt haben. Und als der Meister uns schließlich einließ, haben ihn die Scirathi sofort belohnt. Mit dem Tod.«
Ephesian griff den mit Juwelen übersäten Pokal fester. »Das ist inakzeptabel. Ich toleriere in dieser Stadt weder Täuschung noch Verrat – es sei denn, ich bin der Verräter. Ich wünschte, der Meister wäre noch am Leben, damit ich ihn selbst auf eine angemessen furchtbare Weise hinrichten lassen könnte.« Er hob den Pokal an die Lippen, aber dann rümpfte er die Nase, senkte den Pokal und seufzte.
Melia stieg die erste Stufe des Podestes hinauf. »Stimmt etwas nicht, Eure Herrlichkeit?«
»Nein, nein, Melindora.« Der Kaiser warf mit einem angewiderten Gesichtsausdruck den Pokal zu Boden. Roter Wein ergoss sich wie Blut über den weißen Stein. »Es ist nur so, dass es den Anschein hat, als müssten mir andere sagen, was in meinem eigenen Reich vorgeht.«
»Aber es ist ein großes und prächtiges Reich, Eure Herrlichkeit.«
Ephesian zog eine Grimasse. »Ja, das sagen mir meine Berater auch immer. Doch ich bin nicht ganz so weich und träge, wie sie glauben, mich gemacht zu haben. Ich weiß, dass mein Reich im Laufe der Jahre im gleichen Maße geschrumpft ist, wie mein Leibesumfang zugenommen hat.« Er richtete mit pummeliger Hand die Krone. »Nun, vielleicht ist die Zeit gekommen, dass ich weniger Zeit mit meinen Lastern und mehr mit den Angelegenheiten meines Reiches verbringe.«
Lirith nickte zustimmend. »Ihr werdet entdecken, dass das einer der erfreulichen Nebeneffekte der Tugendhaftigkeit ist, Eure Herrlichkeit. Sie schafft in Eurem Verstand und in Eurem Tagesablauf mehr Platz für so viele andere Dinge.«
»Ist das so?«, sagte Ephesian und rieb sich das Kinn. »Faszinierend. Ich befehle dir, mir mehr über deine Tugendhaftigkeit zu erzählen.«
Melia stieg noch eine Stufe hinauf. »Eure Herrlichkeit …«
Ein weiterer, tiefer Seufzer. »Ja, ja, Melindora. Ich verstehe ja, dass das kein Höflichkeitsbesuch ist. Die Götter mögen verhindern, dass Ihr jemals nach Tarras kommt, um Eurem geliebten Kaiser nett und höflich Euren Gehorsam zu erweisen. Also heraus damit. Was braucht Ihr?«
»Die Kuppel der Etherion«, sagte Melia. »Nur für einen Tag. Oh, und Soldaten. Eine Menge Soldaten.«
Der Kaiser schüttelte den Kopf, dann verzog er die dicken Lippen zu einem Lächeln. »Nun, das wird ja doch noch ein ganz interessanter Tag.«
Kurze Zeit später versammelten sie sich in einem Raum, den Ephesian als ›bescheidenes‹ Zimmer bezeichnet hatte, in dem sie warten sollten, während man Melias Bitten erfüllte. Im kaiserlichen Rahmen bedeutete bescheiden offensichtlich etwas in der Größe eines Lagerhauses. Sie streiften durch den gewaltigen, von Marmorsäulen gestützten Saal und verloren häufig einander aus der Sicht – zusammen mit jeder Orientierung.
Lirith fehlte. Sie war im Thronsaal geblieben, damit Ephesian sie weiter über die fremdartigen, aber interessanten Konzepte wie Moral und Anstand befragen konnte. Als Grace sie zuletzt gesehen hatte, hatte Lirith auf der obersten Stufe des Podestes gesessen und fröhlich doziert, während der Kaiser sie mit leuchtenden Augen betrachtete, sich die Hängebacken rieb und kicherte.
Aber vielleicht war es gar kein Wunder, dass der Kaiser für eine Veränderung bereit war.
Er ist kurzsichtig. Du hast gesehen, wie er jeden, der sprach, mit zusammengekniffenen Augen betrachtet hat. Und darum waren alle diese nackten jungen Dinger so uninteressant für ihn. Er konnte sie nicht richtig sehen.
Es war völlig unmöglich, auf dieser Welt für den Kaiser eine Brille herzustellen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass Lirith Ephesian auf andere Weise half.
Grace spazierte ein Stück von den anderen entfernt durch die schräg einfallenden Lichtstrahlen. Die letzten Tage waren so
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