Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
am Boden lag – nur einen Tag nachdem der König selbst getötet worden war.«
Lirith kam näher heran. »Ihr hattet Angst, dass die Mörder des Königs und der Königin auch ihr Kind ermorden würden.«
»Aber wie ist das geschehen?«, fragte Aryn. »In den Geschichten heißt es, dass Malachor unterging, aber sie werden eigentlich nie konkret. Nur dass Ihr …«
Melia warf der jungen Baronesse einen scharfen Blick zu, und Aryn biss sich hastig auf die Zunge. Aber Grace wusste genau, was sie hatte sagen wollen.
Dass Ihr für den Untergang des Königreichs verantwortlich seid.
»Nein, Mylady, diese Geschichte werde ich heute nicht erzählen.« Der Barde schaute auf, und seine wölfische Miene hellte sich auf. »Davon abgesehen spielt das im Augenblick auch keine Rolle. Nicht, wo du zu uns zurückgekehrt bist, Ralena.«
Endlich fand Grace ihre Stimme wieder. »Warum nennt Ihr mich Ralena?«
Melia lächelte. »Weil das dein Name ist, Liebes. Es ist der Name, den dir deine Eltern gegeben haben.«
Diese Worte trafen Grace wie ein Schlag in den Magen. »Meine Eltern? Ihr habt sie gekannt?«
»Ja, Liebes, sogar recht gut.« Melia seufzte. »Sie waren so jung, so gescheit – in ihrer Gegenwart kam ich mir manchmal so vor, als wäre ich erst tausend Jahre alt.«
Durge quollen fast die Augen aus dem Kopf, und selbst Grace verspürte den verrückten Drang zu lachen. Aber das Gefühl verstrich, als sich Melias Blick mit Trauer füllte.
»Was ist geschehen?«, flüsterte sie.
»Raiff und Anilena – deine Eltern, Grace – wurden jung verheiratet«, begann Falken. »Damals waren Melia und ich der Meinung, dass sie zu jung waren, aber ich glaube, sie verspürten eine gewisse Dringlichkeit in dieser Angelegenheit. Du musst dazu wissen, dass Anilena die einzige lebende Erbin von Malachor war – die direkte Nachfahrin des letzten Königs. Ihre Eltern waren jung gestorben; ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, ihr Vater ein Jahr später auf der Eberjagd.«
Melia berührte Falkens Arm. »Er ließ sich von der Bestie töten, Falken. Du weißt, dass das wahr ist. Er konnte es nicht ertragen, ohne seine Geliebte zu leben.«
Der Barde tätschelte ihre Hand. »Es blieb Melia und mir überlassen, Anilena so gut großzuziehen, wie wir nur konnten. Es war nicht das erste Mal im Verlauf der Jahrhunderte, dass wir ein Kind aus dem Geschlecht von Malachor bis ins Erwachsenendasein begleiteten, aber wir hatten noch nie eins von so jungem Alter an großgezogen, und darum nahm Anilena einen besonderen Platz in unseren Herzen ein. Natürlich hatten wir Hilfe. Hüter Gevriel und seine beiden Söhne lebten bei uns. Gevriel kam aus der Hüterfamilie, die den Königen von Malachor gedient hatte, denn das Geschlecht hatte nach dem Untergang des Königreichs überlebt. Es gab immer mindestens einen Hüter, der über den derzeitigen Erben wachte. Als Anilena ein Kind war, lebten wir alle im südlichen Calavan, in einem kleinen Herrenhaus am Ufer des Flusses Goldwein.«
»Dort war es so schön«, sagte Melia leise. »Ich werde nie vergessen, wie sich bei Sonnenuntergang das Licht auf dem Fluss spiegelte.«
Grace zwang sich dazu, ruhig zu atmen. »Wusste … wusste Anilena, wer sie war?«
»Zuerst nicht, Liebes«, sagte Melia. »Wir wollten, dass sie wie ein ganz normales Kind aufwächst. Sie wusste, dass ihre Eltern gestorben waren, und sie hielt uns für Onkel und Tante. An ihrem achtzehnten Geburtstag gaben wir ihr dann die Halskette, die du jetzt trägst, und wir klärten sie über die Wahrheit auf. Zuerst war sie wütend, aber nach kurzer Zeit akzeptierte sie die Last, die man ihr aufgebürdet hatte.« Melia streckte den Arm aus und drückte kurz Graces Hand. »Die deines Geschlechts sind immer stark gewesen, Liebes.«
Grace bekämpfte den Drang, die Finger sofort zurückzureißen.
»Und eigenwillig, vergiss nicht, eigenwillig«, fügte Falken hinzu. »Kaum einen Monat nachdem wir Anilena über ihr Erbe einweihten, lief sie fort und heiratete Raiff, den ältesten von Gevriels beiden Söhnen. Ehrlich gesagt war ich überrascht, dass es so lange gedauert hatte, bis die beiden Geschlechter sich vereinigten. Aber wie dem auch sei, Anilena liebte ihn, und es hatte den Anschein, als wäre sie entschlossen, so schnell wie möglich einen Erben zu produzieren. Für den Fall, dass etwas Schreckliches geschah.«
»Und das tat es«, sagte Durge mit unheilvoller Stimme.
Jetzt war es Falken, der die Stimme verloren zu haben
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