Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
zuzusehen.«
Anders ging zu seinem Schreibtisch. »Vor ein paar Monaten habe ich schließlich meinen Mut zusammengenommen und mit Nakamura gesprochen. Zuerst hat er mich nicht ernst genommen, aber ich blieb hartnäckig. Schließlich unterzog er mich einem Test – eine Art Logiktest –, und ich vermute, er glaubte, ich würde ihn nicht schaffen, und das wäre es dann für mich gewesen.«
Er lachte. »Es stellte sich heraus, dass ich den Test locker bestanden hatte. Ich vermute, man braucht etwas mehr Grips, um in der Sicherheitsabteilung zu arbeiten, als die meisten Leute glauben. Also stellte mich Nakamura als Agenten-Anwärter ein. Aber nur provisorisch. Er sagte, er würde mich einer seiner besten Agentinnen zuteilen, und nach drei Monaten würde sie dann entscheiden, ob ich bleiben darf oder nicht.« Er sah sie an. »Ich schätze, damit waren Sie gemeint, Kollegin.«
Es war eine gute Geschichte. East schon zu gut. So konnte man ihr problemlos einen Sicherheitsbeamten zur Seite stellen, den sie normalerweise abgelehnt hätte.
»Was ist mit der Pistole?«, fragte sie.
Anders blickte verlegen drein. »Ich sollte auch das geheim halten. Ich habe Nakamura gesagt, dass ich mir nach zehn Jahren mit Waffe ohne einfach etwas nackt vorkommen würde. Da ich die dafür nötige Ausbildung habe, lässt er sie mich behalten. Jedenfalls für den Augenblick, bis die Philosophen die endgültige Entscheidung getroffen haben.«
Deirdre musterte ihn und suchte nach irgendeinem Anzeichen, dass er nicht die Wahrheit sagte. Sie konnte keines finden, aber das konnte auch nur bedeuten, dass er ein guter Lügner war.
Du kannst so nicht leben, Deirdre. Anders' Geschichte ist völlig plausibel, und zweifellos kann Nakamura alles bestätigen. Du kannst nicht jeden in deiner Umgebung verdächtigen. Das wird dich bloß in den Wahnsinn treiben.
So wie es Farr in den Wahnsinn getrieben hatte? Aber als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, wies sein Blick keine Spur von Wahnsinn auf. Nein, Farr war völlig normal gewesen, und das war es, was sie ängstigte.
Deirdre traf eine Entscheidung. »Sie können keine Geheimnisse mehr vor mir haben, Anders.« Sie lächelte und hoffte, dass es vertraueneinflößender war, als es aussah. »Nicht, wenn wir Partner sein wollen. Wir müssen uns aufeinander verlassen können. Kapiert?«
Erstaunen zeigte sich auf seinem Gesicht, dem ein breites Grinsen folgte. »Verstanden, Kollegin.«
»Also, gibt es da noch etwas, was ich wissen sollte?«
Er kratzte sich am Kinn. »Nun, Sie haben immer noch was vom Mittagessen zwischen den Zähnen, sonst nichts. Ich habe versucht, es zu übersehen, aber ehrlich gesagt macht mich das verrückt. Darum habe ich uns auch aus dem Pub geschleift.«
Deirdre schlug die Hand vor den Mund. »Danke«, sagte sie durch die Finger hindurch.
Zehn Minuten später – und nach einem kurzen Abstecher in den Waschraum mit der Zahnbürste in der Hand – saß Deirdre wieder an ihrem Schreibtisch. Anders hämmerte schon wieder auf seinen Computer ein, und sie nahm an, dass der beste Weg, zur Ruhe zu kommen, darin bestand, sich auf die vor ihr liegende Arbeit zu konzentrieren. Sie nahm einen Kugelschreiber und machte sich über die Faksimiles von dem Fall von 1619 her und rief sich dabei ins Gedächtnis zurück, dass die Leute vor vier Jahrhunderten die nervtötende Angewohnheit gehabt hatten, ein F zu schreiben, das wie ein S aussah, und statt einem I ein Y zu benutzen und bei so ziemlich allem ein E dranzuhängen.
Erst Stunden später bemerkte sie die Akte. Anders war aufgestanden, um noch eine Kanne Kaffee zu machen. Deirdre lehnte sich zurück und rieb sich den Nacken. Sie war gut mit den Seiten des alten Sucher-Journals vorangekommen und für mehr bereit. Sie schob einen der hohen Papierstapel auf ihrem Tisch zur Seite.
Im Gegensatz zu den von ihr benutzten Aktenordnern war dieser Ordner rot und mit einem Band zugeschnürt. Sie schaute zu Anders hinüber, aber der arbeitete noch immer mit ihr zugewandtem Rücken an dem Kaffee. Schnell wickelte sie das Band von dem Verschluss ab und öffnete die Akte.
Darin befand sich ein einzelnes schwarzweißes Foto. Es zeigte das Fragment einer Lehmtafel, die mit zwei Reihen Schriftzeichen bedeckt war. Die obere Reihe sah irgendwie vertraut aus. Deirdre hatte eine solche Schrift schon einmal gesehen, aber sie kam nicht drauf, um was es sich genau handelte. Sumerische Keilschrift? Nein, nicht ganz. Phönizisch? Vielleicht. Dann glitt ihr
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