Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
seine heiße Stirn. »Nein«, murmelte sie.
Er wand sich auf dem Boden, jetzt keinen Worten mehr zugänglich. Seine schwarze und angeschwollene Zunge ragte aus dem Mund. Es dauerte noch mehrere Minuten. Dann entrang sich ihm ein letzter Schrei, dem die plötzliche Stille des Todes folgte.
Grace erhob sich und trat von der Leiche weg. Samathas Gesicht war bleich, und Aldeth starrte sie an.
Der Spinnenmann rieb sich den Hals. »Erinnert mich daran, niemals gegen Eure Befehle zu verstoßen, Euer Majestät.«
»Ich glaube, das ist unnötig, Aldeth«, sagte Grace und verließ das Zelt in den zu Ende gehenden Tag hinein.
29
Als Deirdre endlich aus dem Gebäudekomplex der Sucher heraus war, sehnte sie sich nach Stille und Einsamkeit statt nach dem öffentlichen Lärm eines Pubs. Sie nahm die U-Bahn nach South Kensington, kaufte in einem Laden, der einen Häuserblock von ihrem Apartment entfernt war, eine Flasche Stout und igelte sich für den Rest des Abends ein.
Gegen Mitternacht hockte sie am Küchentisch vor dem leuchtenden Computerbildschirm. Leider hatte die stundenlange Suche nicht mehr Informationen erbracht, als sie bereits in der vergangenen Nacht entdeckt hatte. Trotz ihrer Lücken stimmte die Botschaft auf dem zerfallenen Schlussstein mit Sicherheit mit der aus Glindas Ring überein. Aber es blieb ein Geheimnis, in welcher Sprache diese Botschaft geschrieben worden war. Die Datenbank der Sucher enthielt Formen und Muster sämtlicher bekannter geschriebener Sprachen, moderne und uralte, aber sämtliche Suchen erbrachten keine Übereinstimmungen. Nicht mal die Runensprache von AU-3 – von Eldh – war ähnlich.
Falls sie gehofft hatte, dass der geheimnisvolle Besucher sich ihr an diesem Abend wieder offenbaren würde, erlebte sie eine Enttäuschung. Der Lichtkreis unter der Straßenlampe gegenüber ihrem Fenster blieb leer, und der einzige Text auf dem Bildschirm blieb der, den sie selbst schrieb. Als sie schließlich zu Bett ging, war ihr Schlaf unruhig, sie träumte von Wörtern, die vor ihr schimmerten und tanzten. Die Wörter bildeten eine dringende Botschaft, davon war sie überzeugt, aber sie konnte nicht lesen, was sie besagten.
Der nächste Morgen war besser als der vorherige, wenn auch nicht viel. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen, auch wenn sie nicht mehr so schlimm waren, und sie war um fünf vor neun am Arbeitsplatz. Anders war bereits da. Ihm musste entspannter zumute sein, denn er hatte das Jackett ausgezogen und die Ärmel seines silbrigen Hemdes aufgerollt.
Er hämmerte weiter auf seine Tastatur ein, während er aufschaute. »Der Kaffee wartet.«
Deirdre seufzte, als sie sich eine dampfende Tasse eingoss. Vielleicht konnte sie sich ja doch an diese Sache mit dem neuen Partner gewöhnen.
Heute konnte sie sich besser auf ihre Arbeit konzentrieren, und gegen Mittag hatte sie tatsächlich damit angefangen, Daten zu sammeln. Den offiziellen Berichten zufolge war der früheste dokumentierte Verstoß gegen eines der Desiderate im Jahre 1637 erfolgt, man wies einem Meistersucher nach, opiumsüchtig zu sein – ein klarer Verstoß gegen das sechste Desiderat: Ein Sucher darf nicht zulassen, dass sein Urteilsvermögen kompromittiert wird. Aber in einem noch älteren Journal war sie auf einen noch früheren Fall gestoßen, der nach heutigen Standards so gut wie mit absoluter Sicherheit das siebte Desiderat verletzt hätte: Das Wort der Philosophen ist der Wille der Sucher.
Es geschah 1619, gerade mal vier Jahre nach der Gründung der Sucher. Ein junger Sucher-Anwärter namens Thomas Atwater erhielt von den Philosophen den Befehl, niemals wieder den Laden aufzusuchen, in dem er vor seinem Beitritt zu den Suchern gearbeitet hatte. Später entdeckte man, dass der junge Mann das verbotene Haus sehr wohl wieder besucht hatte, aber soweit Deirdre es feststellen konnte, gab es keinerlei Aufzeichnungen einer Strafe, die dem Zwischenfall folgte. Es wurde auch nicht ersichtlich, warum man ihm verboten hatte, seine frühere Arbeitsstelle zu besuchen.
Die Dokumente, die sie bis jetzt über diesen Fall gefunden hatte, waren fragmentarisch und schwierig zu lesen. Das moderne Englisch bildete sich im frühen siebzehnten Jahrhundert heraus, aber die Schreibweise war noch immer eine äußerst kreative Kunst, und in den Faksimiles stand vieles, das Deirdre nicht entziffern konnte. Aber es war ein interessanter Anfang, also entschied sie sich, ihn damit zu feiern, indem sie Anders zum Mittagessen
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