Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Farr irrte sich. Sie hatten nicht nur ihren Glauben verloren. Er hatte Grace Beckett an eine andere Welt verloren. Und Deirdre hatte Glinda in dem Feuer in dem Nachtclub in Brixton verloren. An Duratek.
Aber ihren Glauben hatte sie nicht verloren. Es gab noch immer so viel zu lernen, und mit dem neuen Ausweis, den die Sucher ihr gegeben hatten – mit Echelon 7 –, konnte man unmöglich vorhersagen, was sie möglicherweise entdecken würde.
Deirdre griff nach dem Silberring an der rechten Hand. »Ich kann Sie nicht begleiten, Hadrian. Ich muss hier bleiben. Das ist die einzige Chance, die mir bleibt, um das zu erfahren, was ich wissen muss.«
»Und das ist der Grund, aus dem ich gehen muss.«
Trotz seines grimmigen Gesichtsausdrucks war da etwas an ihm, ein Funkeln in den Augen, das ihn aufgeregt erscheinen ließ. Er war schon immer Risiken eingegangen – darum hatte er bei den Suchern so schnell Karriere gemacht --, aber er hatte nicht zu denen gehört, die sich leichtsinnig kopfüber in Gefahren stürzten. Jetzt war sich Deirdre da nicht mehr so sicher. In der Vergangenheit hatte sie sich über Farr geärgert, war von ihm beeindruckt gewesen, hatte ihn sogar beneidet. Aber jetzt hatte sie das erste Mal Angst um ihn.
»Was werden Sie tun?«
Er zog den zerknitterten Mantel an. »Sie sind ein kluges Mädchen, Deirdre, und Sie haben gute Instinkte. Darum habe ich Sie als Partnerin angefordert. Aber in einer Sache irren Sie sich. Sie haben gesagt, wir hätten das eine getan, auf das die Sucher schon immer aus gewesen sind. Aber das stimmt so nicht.« Farr setzte den Hut auf; sein Gesicht wurde in Schatten getaucht. »Wissen Sie, es gibt noch eine Begegnung der Klasse eins, die wir noch nicht hatten. Goodbye, Deirdre.«
Er küsste sie auf die Wange, dann drehte er sich um und ging zur Tür des Pubs. Graues Licht blitzte auf, ein Schwall nach Regen duftender Luft schoss herein.
Dann war er verschwunden.
4
An einem kalten, hellen Tag gegen Ende des Monats Geldath kehrten sie heim nach Calavere.
Grace Beckett lächelte, als die Silhouette der neun Schlosstürme in Sicht kam, auf denen Flaggen so blau wie der Winterhimmel wehten. Ihr ganzes Leben lang hatte sie an Orten gelebt, die nicht sie ausgesucht, in Häusern gewohnt, wo sie nicht hingehört hatte – das Waisenhaus, eine endlose Zahl von Pflegefamilien, zahllose unpersönliche Apartments, in denen sie sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, ein Bild an die Wand zu hängen. Aber nach Calavere gehörte sie; das verriet ihr das Pochen ihres Herzens. Wenn sie je ein Zuhause gehabt hatte, egal auf welcher Welt, dann hier.
Vor Grace rutschte eine kleine Gestalt auf dem Sattel hin und her. Sie legte die Arme um das Mädchen und stützte das Kinn auf Tiras rot gelockten Schopf.
»Siehst du das Schloss auf dem Hügel da drüben?«, murmelte sie. »Dort lebe ich.«
Tira streckte die Hände aus und lachte.
Grace strich über das Haar des Mädchens und glättete Strähnen, die, wie sie wusste, im nächsten Augenblick wieder da sein würden. In Momenten wie diesen konnte man glauben, dass Tira ein ganz normales Mädchen war. Solange Grace nicht daran dachte, dass sie in dieser Kälte nur mit ihrem dünnen Kleidchen herumlief und sich trotzdem bei jeder Berührung ganz wann anfühlte. Solange Grace nicht daran dachte, wie sie einst wie ein Stern in den Himmel geschossen war, um zu einer Göttin zu werden.
Tira hatte seit der Nacht der Wintersonnenwende kein Wort mehr gesprochen, seit sie ohne Vorwarnung im Schwarzen Turm aufgetaucht war, Travis den Stein des Feuers übergeben und ihn Runenbrecher genannt hatte. Es gab so vieles, das Grace sie fragen wollte – wo sie gewesen war, warum sie zurückgekehrt war, warum sie Travis den Großen Stein Krondisar gegeben hatte –, aber es war sinnlos. Tira würde nicht antworten. Vielleicht konnte sie es auch nicht. Und Grace konnte nicht einen Augenblick lang glauben, dass sie nicht bald wieder verschwinden würde.
»Ich liebe dich«, sagte Grace und drückte das Mädchen mit dem winzigen Körper fester.
Tira schaute mit gelassenem Gesichtsaudruck zu ihr hoch. Die eine Hälfte ihres Gesichts war zart und hübsch, die andere eine leblose Narbenmaske. Als sie alle am Wintersonnenwendtag vom Turm der Runenbrecher aufgebrochen waren, hatte Grace über Tiras Gesicht nachgedacht. Krondisar hatte sie in eine Göttin verwandelt. Warum hatte die Transformation sie nicht wieder unversehrt gemacht? Aber im Verlauf der vielen
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