Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
würgte einen Bissen kaltes Wildbret herunter, um mit gutem Beispiel voranzugehen, aber nur ein großzügig bemessener Schluck Wein sorgte dafür, dass er auch unten blieb.
Sie betrachtete die vertrauten Gesichter an der Hohen Tafel, und eine Diagnose war leicht: Erschöpfung und emotionales Trauma. Auf ihren Reisen im vergangenen Jahr waren sie alle mit schrecklichen Anblicken konfrontiert worden. Feydrim und Phantomschatten. Drachen und Seuchen. Dämonen und Zauberer. Aber es war ein Unterschied, wenn einem die Gefahr an den Ort folgte, den man sein Zuhause nannte. Wenn einen die Finsternis dort erreichen konnte, dann war kein Ort mehr sicher.
Grace wusste, dass sie genauso erschöpft wie die anderen hätte sein sollen, stattdessen fühlte sie sich auf seltsame Weise lebendig. Seit ihren Tagen in der Notaufnahme des Denver Memorial Hospital hatte sie nicht mehr so verbissen und lange versucht, so viele Leben zu retten. Sie hatte sich an diesem Tag um fast zwanzig Patienten bemüht, obwohl sie es ohne Hilfe nie geschafft hätte. Sareth und Falken hatten ausgezeichnete Triage-Krankenhelfer abgegeben, und Lirith konnte gebrochene Knochen richten und Wunden nähen, was Grace Gelegenheit gab, sich um die schlimmsten Fälle zu kümmern. Mehr noch, die schwarzhaarige Hexe konnte mit der kühlen Berührung ihrer Hand Furcht und Schmerz auf eine Weise lindern, wie es Grace niemals hätte zu Stande bringen können.
Grace hatte Melia und mehrere Wachen damit beschäftigt gehalten, ständig Nachschub an Material herbeizuschaffen, und bald war sogar Tira auf den Burghof gerannt gekommen, die kleinen Arme voller Verbände. Als die Sonne hinter der Burgmauer versunken war, war alles vorbei gewesen. Grace hatte nur drei ihrer Patienten verloren – obwohl die Explosion selbst neun weitere Todesopfer gekostet hatte, deren Leichen man aus den Trümmern barg. Insgesamt also ein Dutzend. Doch wenn Grace an das dicht bevölkerte Schloss dachte, fiel es schwer zu glauben, dass es nicht schlimmer gekommen war.
Und das wäre es, wären die Menschen nach der ersten Explosion nicht in die Mitte des Hofes gelaufen, um nachzusehen, was dort eigentlich geschehen war. Aber was genau war eigentlich geschehen? Nach den Explosionen hatten sie ihre ganze Energie darauf verwendet, Leute aus den Trümmern zu ziehen und ihre Verletzungen zu behandeln. Aber was hatte die Explosionen verursacht?
Sie wollte gerade die anderen nach ihrer Meinung fragen, als ein Wandteppich flatterte und Vani erschien. Stumm schritt sie in ihrem hautengen Leder auf die Hohe Tafel zu. Sie trug einen kleinen Stoffsack. Grace hatte sie seit der Explosion nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wo war sie gewesen?
Travis lächelte Vani zu, ein erschöpfter, aber ausgesprochen warmherziger Ausdruck. »Es ist schön, dich zu sehen«, sagte er, während Beltan gleichzeitig fragte: »Hast du etwas gefunden?«
Vani sah Travis an, und einen Augenblick lang wurde ihr strenger Gesichtsausdruck ganz weich. Grace vergaß oft, wie schön die T'gol war. Ineinander verschlungene Tätowierungen betonten den anmutigen Schwung ihres Halses, in ihrem linken Ohr funkelten dreizehn goldene Ohrringe. Dann richtete Vani den Blick auf Relian, und ihre Züge wurden schärfer. »Ja, wir haben etwas gefunden.«
»Wir?« Durge strich sich den Schnurrbart, die beiden Hälften waren noch immer grau vom Staub. »Wer hat Euch geholfen?«
Vani blickte die Wand an. Grace sah nur nackten grauen Stein. Dann schimmerten die Steine, und ein Mann löste sich von der Wand. Er war ziemlich schmal und trug einen blonden Spitzbart, und er warf einen funkelnden grauen Umhang zurück, der nahtlos mit der Wand verschmolzen war.
»Da seid Ihr ja, Aldeth«, sagte Aryn und stellte den Weinpokal ab. »Ich habe mich schon gefragt, wann ihr auftaucht.«
»Eigentlich hatte ich das nicht vor, Euer Hoheit. Aber anscheinend hatte da jemand andere Vorstellungen.« Er sah Vani schräg an.
Die T'gol zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht meine Schuld, wenn Ihr Euch nicht vernünftig verstecken könnt.«
»Ich habe Euch mich im Nordturm finden lassen«, erwiderte der Spinnenmann energisch.
»Ihr meint, so wie ein Schaf einem Wolf erlaubt, sich von ihm fangen zu lassen?«
Der Spinnenmann starrte die Meuchelmörderin böse an, ihm schien jedoch keine passende Erwiderung einzufallen. Grace sah Aryn neugierig an. Woher wusste die Baronesse, dass Aldeth auf Calavere war? Das letzte Mal hatten sie ihn vor vielen Monaten auf
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