Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Boden niedergetrampelt hatte, hätte ein Pfad sein müssen, aber stattdessen sah sie nur Durges Fußabdrücke in der dünnen Schneeschicht. Sie folgte ihnen. Das Horn erscholl erneut, und es klang bereits alarmierend weit weg. Grace lief schneller. Zweige peitschten ihr ins Gesicht undrissen an ihrer Kleidung. Irgendwann verlor sie ihren Umhang, aber sie blieb nicht für ihn stehen. Sie schwitzte trotz der Kälte, und ihr Atem ging stoßweise.
Grace hörte noch mehrere Male das Horn ertönen, und jedes Mal war es leiser als zuvor. Sie verlor Durges Spur auf einem steinigen Stück Boden, und als das Horn das nächste Mal ertönte, erklang es weit zu ihrer Linken und so fern, dass sie es kaum über das Pochen ihres Herzens hören konnte.
Grace stolperte in der Richtung weiter, aber sie hörte das Horn nicht wieder, ihr Schweiß gefror zu Eis, und ihr Gewand wurde ganz steif, während sich ihr Schritt verlangsamte; die Kälte machte sie unbeweglich. Schließlich konnte sie nicht weitergehen, und sie lehnte sich gegen den Stamm eines riesigen Baumes. Sie lauschte, aber da waren weder das Horn noch perlendes Gelächter zu hören; die Waldluft war reglos und stumm.
»Ich habe ihn verloren«, murmelte sie mit tauben Lippen.
Ihr Herz verkrampfte sich. Durge war verschwunden – der einfühlsamste, beste und liebste Freund, den sie auf dieser oder jener Welt hatte. Und es war ihre Schuld. Der Schmerz dieses Gedankens war unerträglich. Grace warf die Arme um den Baum, drückte das Gesicht gegen den Stamm und weinte.
»Alles in Ordnung, Tochter?«, fragte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Grace löste sich von dem Baum. Einen Augenblick zuvor war der Wald grau und trostlos gewesen, aber jetzt funkelte grüngoldenes Licht durch ihre Tränen. Sie wischte sich über die Augen und keuchte auf.
»Warum weinst du so?«, fragte die alte Frau, die vor ihr stand. »Ist es wegen des großen Baumvaters, den du umarmst? Wenn dem so sein sollte, dann trockne deine Tränen, denn er ist nicht tot. Wenn der Frühling kommt, wird er wieder grün und voller Leben sein.«
Grace fühlte, wie ihre Trauer schwand. Die Alte vor ihr strahlte nicht nur das Licht, sondern auch ein Gefühl von Frieden aus. Sie war klein und faltig und wunderschön, ihre Haut war so zart wie Blütenblätter, ihr Haar so fein wie Spinnenseide. Ihr Gewand hatte die Farbe von Schnee, und der Holzstab in ihren Händen war genauso knorrig wie die Finger, die ihn hielten.
»Wer seid Ihr?«, fragte Grace.
Die Alte lächelte, und ihre Augen – die die gleiche Farbe wie das Licht hatten – funkelten. »Ich schätze, man könnte sagen, dass ich hier die Königin bin, so wie du die Königin draußen bist.« Sie machte eine alles umfassende Geste mit dem Stab. »Natürlich ist meine Herrschaft fast am Ende, während deine gerade erst beginnt, Tochter.«
Grace bemühte sich, den Worten einen Sinn abzuringen, aber es gelang ihr nicht, jedenfalls nicht richtig. Kälte und Furcht hatten ihren Verstand gelähmt, »ich weine nicht um den Baum.«
»Für wen weinst du denn?«
Die Worte strömten nur so aus ihr heraus. »Es ist Durge. Der Junge, der mit den roten Haaren, er und die anderen Jäger hetzen ihn durch den Wald. Und sie haben etwas mit ihm gemacht. Sie haben ihm ein Geweih an den Kopf gebunden, aber jetzt ist es nicht mehr angebunden. Es ist echt. Die Jäger werden ihn töten, und es ist alles meine Schuld.«
Die Alte legte den Kopf schief. »Deine Schuld, Tochter? Wie kann das sein?«
Grace fühlte, wie neue Tränen in ihr hochstiegen. »Ich habe wegen des weißen Hirschs gelogen. Ich habe ihnen gesagt, er sei in die eine Richtung gelaufen, dabei war er in der anderen verschwunden. Aber er war so schön. Ich wollte nicht, dass sie ihn töten.«
Die Frau schloss die Augen und griff den Stab fester. »Ja«, murmelte sie. »Ich verstehe jetzt, und ich hätte wissen müssen, dass Quellior damit zu tun hat.« Sie öffnete die Augen. »Es war freundlich und selbstlos von dir, meinem Gemahl bei der Flucht zu helfen.«
Grace schüttelte den Kopf. »Eurem Gemahl?«
»Wie ich bereits sagte, bin ich die Königin dieses Ortes. Und ist er nicht der König?«
Ja, so hatte der rothaarige Junge den Hirsch genannt – der Waldkönig. »Ist er also in Sicherheit?«, fragte Grace. »Der Hirsch? Ich meine, der König?«
Die Alte nickte. »Im Augenblick. Aber bald werden Quellior und seine Jäger ihn einholen, und sie werden ihn töten.«
»Nein«, stieß Grace entsetzt
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