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Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters

Titel: Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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siehst – nicht als Tier, sondern als Mann. Wenn du das tust, wird er sich vielleicht wieder an sein früheres Wesen erinnern.«
    Einen Augenblick lang zitterte Grace am ganzen Leib. Ihr ganzes Leben lang hatte sie andere auf Distanz gehalten, von der Furcht getrieben, dass sie, wenn sie zu nahe kamen, sehen würden, was sie wirklich war, und sich vor Entsetzen abwandten. Aber Durge war ihr Freund; wenn sie das Gute in ihm sehen konnte, dann musste sie daran glauben, dass er es auch in ihr sah.
    Sie stählte ihren Willen und strich mit den Händen über Durges Körper, riss die kleinen Pfeile heraus, die sie fand. Er stöhnte auf und regte sich, seine Lider flatterten. Er wachte auf. Wenn das geschah, würde er vor ihr fortlaufen; davon war sie überzeugt. Sie würde sich beeilen müssen.
    Grace drückte beide Hände auf Durges Brust und schloss die Augen. Sofort sah sie seinen Lebensfaden. Er war grau, so wie sie ihn in Erinnerung hatte, nur dass er mit einem wilden roten Strang versehen war. Durge stieß ein Grunzen aus und bewegte sich unter ihr, aber bevor er sich losreißen konnte, bediente sie sich der Gabe und ergriff seinen Faden, brachte ihn nahe an ihren eigenen schimmernden Strang. In ihrer Vorstellungskraft erschuf sie ein Bild von Durge, wie sie ihn kannte: freundlich, stark, gut. Dann verwob sie die beiden Fäden mit einem Gedanken.
    Ich liebe dich, Durge!, rief sie. Komm zurück zu mir!
    Einen Augenblick lang konnte sie Durges Lebensfaden nicht von dem ihren unterscheiden. Sie waren ein einziger Strang, funkelnd und perfekt.
    Nein, nicht perfekt. Da war noch etwas anderes. Etwas Dunkles und Scharfes und Schreckliches, das gefährlich nahe herangekommen war. Was war es? Bevor Grace es erkennen konnte, erstrahlte plötzlich ein goldenes Licht und hüllte sie ein, und sie wusste von nichts mehr.
    Sie musste eingeschlafen sein. Grace stemmte sich auf die Ellbogen und kämmte mit den Fingern Blätter aus dem Haar. Das goldene Licht war schwächer geworden, aber es war noch immer angenehm, und ihr war warm. Durge lag neben ihr, seine Brust hob und senkte sich in einem regelmäßigen Rhythmus. Die Hörner des Geweihs waren abgefallen und lagen zu beiden Seiten seines Kopfes. Sie legte eine Hand auf seine Stirn; abgesehen von den Sorgenfalten, die selbst jetzt zu sehen waren, war die Haut oberhalb der Brauen unversehrt.
    Grace lächelte, dann erhob sie sich. Ihr Umhang, den sie verloren hatte, hing jetzt auf einem Ast in der Nähe. Sie warf ihn über Durge und bedeckte seine Blöße, dann kniete sie neben ihm nieder. Ihr Lächeln verblich, als sie die Mitte seiner Brust berührte. Als ihre Lebensfäden vereinigt gewesen waren, hatte sie etwas in ihm gespürt – etwas wie einen Schatten, das aber anders gewesen war. Härter, kälter.
    »Also hast du es in ihm gesehen, Tochter. Das dachte ich mir.«
    Grace schaute auf. Die alte Frau – die Waldkönigin – stand über sie gebeugt.
    »Ihr könnt es auch sehen?«
    Die Alte nickte. »Ich habe es bemerkt, als ich ihn das erste Mal sah. Aber wir haben den grausamen Biss des Eisens von jeher gehasst, und wir wissen, wenn es in unsere Nähe kommt.«
    Die Wärme verflog. »Wovon sprecht Ihr?«
    »In seiner Brust ist ein Splitter aus Eisen. Er liegt in gefährlicher Nähe seines Herzens. Und jeden Tag rückt er ein Stück näher heran.«
    Nein, das war unmöglich. Durge konnte keiner von ihnen sein. Dann erinnerte sich Grace an die Schmerzen, die er in der Nacht des Angriffs auf Calavere in der Brust gehabt hatte. Sie untersuchte seine Brust. Unter dem dunklen Haar zeichneten sich die Linien von einem Dutzend weißer Narben ab, aber sie erkannte sie als die Hinterlassenschaft der Verletzungen, die er in der Nacht der Wintersonnenwende vor über einem Jahr auf Calavere davongetragen hatte, als er von einem Rudel Feydrim angegriffen worden war.
    Durge war ein großartiger Krieger, trotzdem hatte sie es erstaunt, dass er es geschafft hatte, ganz allein auf sich gestellt so viele Feydrim abzuwehren. Grace hatte sich immer gewundert, wie ihm das gelungen war …
    Und was ist, wenn er es nicht geschafft hat? Was ist, wenn er nicht dort weggekommen ist – zumindest nicht, bis sie ihn gehen ließen?
    Sie schloss die Augen, und auch wenn sie der Gedanke, was sie dort vielleicht sehen würde, mit Entsetzen erfüllte, griff sie dennoch mit der Gabe zu und schaute in Durges Körper hinein. Jetzt, da sie wusste, wonach sie Ausschau halten musste, sah sie es sofort, drei

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