Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
den Rücken zu und setzte sich in Bewegung. Er konnte die zehn Blocks zu dem Obdachlosenasyl gehen, aber das war eigentlich sinnlos. So spät am Tag würden alle Betten bereits in Beschlag genommen sein. Eigentlich hatte er früher zu dem Asyl gehen wollen, aber er hatte in der öffentlichen Bibliothek von Denver gelesen und die Zeit aus den Augen verloren.
Die Bibliothek war eine neoklassizistische Festung aus Gussstein, die den südlichen Rand der Innenstadt bewachte, und es war ein Etablissement, aus dem man Leute wie ihn nicht sofort hinauswarf – jedenfalls nicht, solange sie sich an die Regeln hielten. An den kältesten Tagen, an denen er es draußen einfach nicht aushielt, machte er sich auf der öffentlichen Toilette so gut zurecht, wie es ging, und so lange er an einem Tisch saß und still in Büchern las, konnte er dort so lange bleiben, wie er wollte.
Natürlich patrouillierten die Sicherheitsbeamten oft und warfen ihm scharfe Blicke zu, und er wusste, dass ganz egal, wie müde er auch war, ganz egal, wie sehr er auch den Kopf auf den Tisch legen oder noch besser, sich auf dem Teppich zusammenrollen wollte, der viel weicher war als alles, auf dem er in den vergangenen Wochen geschlafen hatte, er dieses Risiko nicht eingehen konnte. In dem Augenblick, in dem er schlief statt zu lesen, würde er herumlungern, und die Beamten würden ihn rauswerfen und ihn vielleicht aufschreiben, so dass er nie wieder würde eintreten dürfen. Also las er ein Buch nach dem anderen, und wenn sein Verstand die tanzenden Buchstaben nicht länger in eine verständliche Reihenfolge zwingen konnte, starrte er einfach mit offenen Augen auf die Seiten und schlug sie alle paar Minuten um. Nach diesem traurigen Ersatz von Ruhe blinzelte er dann, stand auf und suchte sich ein anderes Buch.
Für gewöhnlich verbrachte er seine Zeit in der Bibliothek in der Abteilung, die der Geschichte des Westens gewidmet war. Dort fand er eines Nachmittags in einer gebundenen Sammlung vergilbter Zeitungen endlich das, wonach er gesucht hatte. Es war eine Ausgabe des Castle City Clarion vom 26. Dezember 1887. Seine Sicht verschwamm, als er die Überschrift des ersten Eintrags der Todesanzeigen las:
Maude Carlyle, Pensionswirtin, im Alter von 35 Jahren an Auszehrung gestorben.
Darunter stand ein zweiter Eintrag:
Bartholomew Tanner, ehemaliger Sheriff, im Alter von 37 Jahren von eigener Hand gestorben, durch einen Revolverschuss in die Schläfe.
Travis fuhr mit zitterndem Finger über die Seite, als er die Todesanzeigen las, aber sie waren kurz und boten nur wenige Informationen, und es gab keine Bilder. Wer war als Erster gestorben? Aber das wusste er. Tanner hatte Maudies letzten Tage zusammen mit ihr verbringen wollen. Und als ihr Leben vorbei war, war es das seine auch. Travis starrte nicht begreifend auf das Papier, weil sich auf der Seite dunkle Flecken ausbreiteten, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass es seine Tränen waren.
Er starrte das Buch noch immer an, als ein Sicherheitsbeamter ihn an der Schulter berührte und zum Gehen aufforderte. Zuerst glaubte Travis eingeschlafen zu sein und dass man ihn deswegen rauswarf. Dann ertönte über den Lautsprecher die Ankündigung, dass die Bibliothek schloss. Er stellte das Buch hastig an seinen Platz zurück und eilte hinaus in den zur Neige gehenden Tag.
Travis behielt Recht. Als er bei dem Obdachlosenasyl eintraf, wartete bereits eine Gruppe von Männern vor der Tür auf das letzte freie Bett. Ein paar der Männer starrten ihn mit schmalen Augen an, und er eilte weiter; hier würde er in dieser Nacht keine Unterkunft finden.
Er hätte es in einer der Kirchen versuchen können, aber die meisten waren weit weg, und in einer so kalten Nacht würden wahrscheinlich auch sie gefüllt sein – jedenfalls die wenigen, die Obdachlosen noch einen Unterschlupf boten. Jeden Tag brachten die Zeitungen, die Travis aus Papierkörben fischte, noch düsterere Nachrichten als am Vortag. Mehr Firmenschließungen und Massenentlassungen, mehr Bomben in Einkaufszentren und wahllose Schießereien auf den Straßen, mehr seltsame neue Krankheiten ohne Ursache oder Behandlungsmethoden. Die Flut der Wohltäter war zu einem Rinnsal geworden; die meisten Kirchen waren gezwungen gewesen, den Bedürftigen die Türen zu verschließen, und waren selbst Bettler geworden.
Die meisten, aber nicht alle. Travis schaute auf. Sie ragte gewaltig an der nördlichen Skyline der Innenstadt auf, auf der anderen Seite
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