Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
des Flusses, zeichnete sich so scharf und beeindruckend wie ein Berg von allem ab. Aber dieser Berg bestand nicht aus Stein, sondern aus Stahl und Glas. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war das Gebäude noch im Baustadium gewesen. Jetzt flutete Licht daraus hervor wie das Leuchten des Himmels, das golden und hart graue Wolkenbänke durchbrach – wunderschön, aber abschreckend.
Ein paar der Männer, mit denen sich Travis gelegentlich unterhielt, hatten behauptet, dass man in der Stahlkathedrale noch immer milde Gaben erhielt. Dazu musste man nur auf die Knie fallen, die Sünden bereuen und die Seele verpfänden, dann bekam man ein weiches Bett und so viel heißes Essen, wie man nur herunterschlingen konnte. Aber wenn das stimmte, warum stand dann vor dem Obdachlosenasyl eine Schlange? Vielleicht lag es daran, dass die meisten Leute es weder nötig hatten, gerettet zu werden, noch es wollten. Sie wollten nur etwas zu essen und einen sicheren Platz zum Schlafen. Denn Armut war keine Sünde, und seine Seele zu verpfänden schien ein schrecklich hoher Preis für eine Liege und einen Teller Suppe.
Aber vielleicht waren Seelen heutzutage auch billiger, als er glaubte – eine weitere Auswirkung der taumelnden Wirtschaft.
Er ging weiter, ohne eigentlich zu wissen, wohin, nur von dem Wissen angetrieben, dass es noch kälter sein würde, wenn er stehen blieb. Sein Magen knurrte, aber er hatte noch drei Dollar – Geld, das er mit dem Einsammeln von Flaschen und Dosen aus Mülleimern verdient hatte –, und das würde reichen, um sich einen Hamburger und eine Tasse Kaffee kaufen zu können. Das grelle Neonschild eines Fast-Food-Ladens ragte in der Nacht auf. Er würde essen – ganz langsam, um so lange wie möglich in der fluoreszierenden Wärme bleiben zu können –, danach würde er entscheiden, wo er hingehen konnte.
Das leuchtende gelbe Schild füllte sein Blickfeld, und er dachte an Calaveres Großen Saal, an das Feuer, das selbst jetzt in dem gewaltigen Kamin lodern würde, und an das gebratene Wildbret und die Weinkrüge, unter denen sich die Tische biegen würden. Aber es war nicht der Gedanke an Essen und Wärme, der seinen Atem in der Luft in Nebel verwandelte. Es waren die Gesichter, die er sich an der Hohen Tafel vorstellte. Grace und Aryn zu beiden Seiten eines polternden König Boreas. Lirith, Sareth und der gute, verlässliche Durge. Melia und Falken, die wie immer geheimnisvoll miteinander flüsterten. Und an den entgegengesetzten Enden des Tisches ein blonder Ritter mit grünen Augen und eine Frau in hautengem schwarzen Leder, deren Augen so golden wie Monde waren …
Er biss die Zähne zusammen, starrte in das von Neonlicht erhellte Innere des Fast-Food-Ladens und ließ das Licht seine Visionen wegbrennen. Er konnte nicht zulassen, dass er an sie dachte. Das würde nur zu Verzweiflung führen. Oder noch schlimmer, zu Wahnsinn. Davon abgesehen hatten sowohl Beltan als auch Vani deutlich gemacht, dass sie ihn nicht länger brauchten. Irgendwie hatte er ihre Liebe gewonnen, um sie dann genauso unbegreiflicherweise wieder zu verlieren. Aber warum sollte ihn das überraschen? Er hatte Alice und Max verloren, und den Saloon. Wann war er in seinem Leben je fähig gewesen, an etwas Gutem festzuhalten?
Du behütest keine Dinge, Travis. Nicht wie ein Arzt, nicht wie Grace. Du zerstörst sie, und es ist Zeit, damit aufzuhören, das zu verleugnen. Außerdem müssen manche Dinge zerstört werden. Bruder Cy hat das gesagt – und Beltan auch.
Aber Travis würde keine Welt zerstören, nicht auf die Weise, wie es die Hexen und der Drache Sfithrisir glaubten. Er würde Duratek zerstören und auch das Tor, das sie erschaffen hatten, um nach Eldh zu gelangen. Und wenn er damit fertig war, gab es da noch etwas, das er zerstören würde. Manche Dinge …
Plötzlich musste er an etwas denken. Sein alter Freund Jack Graystone war immer in seinem Bewusstsein zu spüren; er lauschte jedem seiner Gedanken. Aber Travis konnte nicht zulassen, dass Jack wusste, was er dachte; Jack würde bloß versuchen, ihn aufzuhalten. Travis verdrängte diese Gedanken gewaltsam, verließ den Bürgersteig und fing an, die Straße zu überqueren.
Er erstarrte, als ein schwarzer Lieferwagen ein Stück voraus lautlos um die Ecke bog. Die Mondsichel auf der Seite des Lieferwagens schimmerte im Licht der Straßenlaternen in einem krankhaften Orange. Travis stolperte zurück, duckte sich in die Schatten eines leeren Durchgangs und
Weitere Kostenlose Bücher