Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
auf den Tisch gelegt hatte. Aber sie konnte sich nichts anderes vorstellen.
Ich weiß, dass Sie da sind, tippte sie. Ich weiß, dass Sie mich beobachten. Was soll ich tun?
Sie drückte auf ENTER, und der Computer gab ein Akustiksignal von sich.
Fehler. Suchanfrage kann nicht bearbeitet werden.
Deirdre knallte das Notebook zu, schob es in ihre Umhängetasche und stand auf. Sie hätte schon längst bei der Arbeit sein müssen.
Als sie das Stiftungshaus erreichte, war sie völlig durchnässt.
»Guten Morgen, Miss Falling Hawk«, sagte Madeleine. Sie hielt mit dem Tippen inne und schaute zur Wanduhr. »Moment. Schönen Nachmittag.«
Deirdre zuckte innerlich zusammen. »Ich habe eine E-Mail geschickt. Ich habe Bescheid gesagt, dass ich zu Hause arbeite.«
»E-Mails sind was für Barbaren«, sagte Madeleine. »Wo ist ihr Schirm?«
»Ich habe keinen.«
Die Empfangsdame schnalzte mit der Zunge. Zweifellos besorgten sich nur Barbaren keine Schirme, wenn sie in London waren.
Deirdre eilte in ihr Büro, wo sie Anders zu finden glaubte, wie er auf seinem Computer herumtippte, aber er war nicht da. Vermutlich war er beim Essen. Auch gut. So würde sie etwas Ruhe haben, um Arbeit erledigt zu bekommen, obwohl sie seinen Kaffee vermissen würde. Sie hob die Kanne, aber die war leer.
Sie begnügte sich mit einem Glas Wasser, setzte sich an ihren Schreibtisch, klappte den Computer auf und rief die Dateien über den Fall Thomas Atwater auf.
Atwater war der Sucher-Anwärter, der 1619 das Siebte Desiderat gebrochen hatte, indem er trotz des Verbots der Philosophen seine frühere Arbeitsstelle aufgesucht hatte. Aber soweit sie hatte feststellen können, gab es keinerlei Aufzeichnungen von Strafen. Tatsächlich hatte Atwater den fragmentierten Quellen zufolge, die sie hatte aufspüren können, bei den Suchern recht schnell Karriere gemacht und war vor seinem frühzeitigen Tod im Alter von neunundzwanzig Jahren bis zum Meister befördert worden.
Deirdre war nicht besonders begeistert gewesen, als Nakamura ihr diese Arbeit zugewiesen hatte, aber möglicherweise war er da auf etwas gestoßen. Hatten sich die Philosophen in ihrer Anwendung der Desiderate im Verlauf der Jahrhunderte weiterentwickelt? Wenn dem so war, würde die Einsicht in die verschiedenen historischen Präzedenzfalle den Suchern den Rückhalt geben, mit den Philosophen über die Desiderate diskutieren zu können, und das konnte ihnen eine größere Flexibilität bei ihren Untersuchungen verschaffen.
Aber in den letzten Tagen war Deirdre bei ihren Nachforschungen in gewisser Weise in eine Sackgasse geraten. In den alten Aufzeichnungen war kein Anhaltspunkt dafür zu finden, warum Atwater nicht für seine Regelverstöße bestraft worden war. Sie führte mehrere neue Suchläufe durch, während die Uhrzeiger lautlos weiterrückten, aber sie blieb erfolglos.
Als Anders das Büro betrat, starrte sie noch immer auf den Bildschirm. Reflexartig klappte sie den Computer zu. Er schien es nicht zu bemerken, und er warf ihr ein breites Lächeln zu.
»Schönen Nachmittag, Kollegin. Schön, dass Sie es noch geschafft haben. Was macht der Kopf? Besser?«
»Ja«, erwiderte sie, dann zuckte sie zusammen und hielt sich die Stirn.
Er schnalzte mit der Zunge und ging zur Kaffeekanne. »Sieht ganz so aus, als meinten Sie Nein. Wir sollten Ihnen besser etwas Koffein verabreichen. Ich gehe mal davon aus, dass die Sucher Ihren Verstand in hervorragendem Zustand haben wollen.«
Wieder machte sie sich Vorwürfe, dass sie Anders mit solchem Misstrauen begegnete. Er war in den vergangenen Tagen immer nur freundlich und hilfsbereit gewesen. Sie klappte den Computer wieder auf, und als er ihr eine dampfende Tasse brachte, nahm sie sie mit einem echten Lächeln entgegen.
Um sechs Uhr war die Wirkung des Kaffees verflogen. Deirdre war ein paar Spuren im Fall Thomas Atwater gefolgt, aber sie alle hatten zu nichts geführt. So interessant dieser Fall auch war, sie würde sich anderen zuwenden müssen. Tatsache war, dass sie vermutlich niemals die vollständige Geschichte von Atwaters Vergehen erfahren würde und warum die Philosophen ihn nicht bestraft hatten.
Anders zog die Jacke an und kündigte an, ins Pub zu gehen, wo er mit ein paar Freunden auf ein Glas verabredet war. Er lud sie zum Mitkommen ein, aber sie lehnte ab. Nachdem Anders gegangen war, packte Deirdre ihre Sachen. Sie sehnte sich bloß nach einem ruhigen Abend auf dem Sofa vor dem Fernseher.
Ein Klopfen an der Tür
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