Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
Schwester? Sicherlich würde Liendra keine solche Tat verüben, nicht einmal an Ivalaine.«
»Nein, es war nicht Liendra. Der Wächter hätte sie nicht aus freien Stücken passieren lassen, und ich glaube nicht, dass ihre Magie stark genug ist, um sein Bewusstsein zu verwirren.« Aryn dachte über alles nach, was sie gesehen und gehört hatte. Wieder tastete sie die Störung in der Weltenkraft ab, und sie rief sich Ivalaines Worte von diesem Tag ins Gedächtnis zurück.
Sie würde … in den Schatten … nicht am Leben und nicht tot … sie glaubt, sie kann mich davon abhalten …
Wer war zugleich lebendig und tot?
Aryn fröstelte, und endlich fiel ihr die Antwort ein. »Shemal«, sagte sie und erhob sich. »Es ergibt alles einen Sinn. Die Nekromantin Shemal muss nach Melias Abreise zurückgekehrt sein. Diese Dinge, die Ivalaine heute zu uns gesagt hat – sie hörten sich genau wie die Worte an, die Meister Tharkis mir auf Ar-Tolor sagte. Shemal hat ihn in den Wahnsinn getrieben, und dann hat sie das Gleiche bei Ivalaine gemacht.«
Der Narr, dessen Verstand verwirrt und der einst der König von Toloria gewesen war, war ermordet worden, damit er Shemals Anwesenheit nicht verraten konnte. Genau wie Ivalaine. Wie lange hatte Shemal dort in den Schatten gelauert? Von Anfang an musste sie Toloria als zentrales Element ihres Plans betrachtet haben. Aber warum?
Sie hatte das Gefühl, die Antwort förmlich greifen zu können – dann verließ sie das Gefühl der Klarsicht. Ein Schluchzen stieg in ihr auf. Ivalaine war Königin, Hexe und – im Geheimen all die Jahre – Mutter gewesen. Und mehr als das, sie war diejenige gewesen, die Aryn als Erste mit den Geheimnissen der Weltenkraft bekannt gemacht hatte. Und jetzt war sie nichts. Eine tiefe Verzweiflung nahm von Aryn Besitz; wenn eine so große Frau wie Ivalaine stürzen konnte, welche Hoffnung hatten sie dann?
Lirith bückte sich und schloss sanft Ivalaines Augen. Sie küsste die Königin auf die Stirn. »Lebt wohl, schöne Schwester.« Dann erhob sie sich und wandte sich ab.
Das Geräusch von Stimmen und schweren Schritten erfüllte den Korridor.
»Wir müssen gehen«, sagte Sareth leise. »Der König wird mit uns sprechen wollen.«
Er hatte Recht. Sie sprachen mit Boreas, aber nur kurz, eine Stunde später in seinem Gemach. Er bat sie, den Zustand zu beschreiben, in dem sie die Königin vorgefunden hatten, und er hörte reglos auf seinem Stuhl vor dem Feuer zu, den Blick in die Flammen gerichtet. Als Aryn davon anfing, wer ihrer Meinung nach für diese schreckliche Tat verantwortlich war, brachte sie der König mit einer Handbewegung zum Schweigen und bat sie alle zu gehen.
Aryn zögerte an der Tür; Lirith und Sareth hatten den Raum bereits verlassen. »Euer Majestät«, sagte sie mit vom Weinen heiserer Stimme, »werdet Ihr den Aufbruch nach Norden verschieben, damit man um sie angemessen trauern kann?«
Er hielt den Blick unbeirrt aufs Feuer gerichtet. »Es wird noch viele geben, die aus dem Leben scheiden werden, bevor die Sache ihr Ende findet. Es wäre besser, wenn wir warten und sie alle betrauern könnten. Ich reise morgen ab.«
Aryn schlüpfte durch die Tür und gesellte sich zu Lirith und Sareth, die im Korridor auf sie warteten.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Sareth, während sie gingen. »Warum wollte er nicht wissen, wer die Königin umgebracht hat?«
Lirith schüttelte den Kopf. »Vielleicht spielt es für ihn keine Rolle. Wenn er es wüsste, würde es seine Pläne ändern? Das bezweifle ich.«
»Vielleicht«, sagte Aryn, obwohl sie Liriths Theorie aus irgendeinem Grund anzweifelte. Sie kannte den König besser als sonst jemand. Auch wenn er eher ein Mann der Tat als des Geistes war, war Boreas alles andere als dumm. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er nicht sämtliche verfügbaren Informationen haben wollte.
Woraus folgt, dass er bereits weiß, wer Ivalaine getötet hat. Aber woher?
Sie wusste es nicht. Trotzdem wusste sie eines. »Wir müssen mit Prinz Teravian sprechen. Ich weiß, dass sie ihn umbringen wollte, aber in ihrer Vorstellungskraft hat Ivalaine ihn beschützt, und jetzt ist sie tot. Shemal befindet sich irgendwo in der Umgebung des Schlosses – sie könnte sogar hier sein. Wir müssen ihn warnen, dass er in großer Gefahr schwebt.«
Aber als sie Teravians Gemächer erreichten, fanden sie die Tür von Sai'el Ajhir bewacht vor, der ihnen den Zutritt verweigerte. Nach dem zweiten Mordanschlag auf das Leben
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