Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
darüber nachzudenken, was Liendra plant.«
»Da bist du kaum allein.«
Lirith behandelte Sareths Gesicht; er saß auf der Bettkante. Wo Herzog Petryen ihn geschlagen hatte, befanden sich eine dunkel verfärbte Schwellung an seinem Kinn sowie ein hässlicher Riss auf seiner Wange.
Sareth zuckte zusammen, als Lirith ihm ein feuchtes, in eine Kräuterlösung eingetauchtes Tuch auf die Wange drückte. »Ich dachte, du wärst auf meiner Seite, Beshala, nicht auf ihrer. Das brennt.«
»Dann hilft es auch. Halt es fest.«
Der Mournisch seufzte. »Du bist so schlimm wie meine Al-Mama. Wenn ich als kleiner Junge krank war, hat sie mir Tränke eingeflößt, die wie Dung schmeckten. Ich habe nie begriffen, warum das Heilmittel schlimmer als die Krankheit sein muss.«
»Natürlich nicht«, sagte Lirith mit einem mitleidlosen Lächeln. Sie ging zur Kommode, um dort weitere Kräuter zu mischen. »Und jetzt sei still, und ich braue dir etwas für …«
Lirith erstarrte. Ein Tiegel rutschte ihr aus den Fingern und fiel scheppernd auf die Kommode. Sie fuhr mit weit aufgerissenen Augen herum.
Aryn sprang aus dem Stuhl. »Was ist, Schwester?«
»Ivalaine«, stieß Lirith hervor. »Sia sei gnädig, es ist Königin Ivalaine.«
Als sie den Kerker erreichten, war es bereits zu spät.
Im ersten Augenblick sträubte sich der Wachmann gegen Aryns Befehl, Ivalaine sehen zu wollen, aber ihr Zorn war so groß, dass er es sich schnell anders überlegte. Er führte sie durch einen feuchten Korridor vorbei an Zellen voller Diebe und Übeltäter, die aus der Stadt unterhalb des Schlosses stammten sowie aus dem sich versammelnden Heer von Vathris. Hände griffen an den Gitterstäben vorbei nach den Ladys, aber Sareth schlug sie zurück; der Gestank von Urin und Erbrochenem lag schwer in der Luft. Aryn überkam ein großes Entsetzen, so dass sie, als der Wächter die eisenbeschlagene Tür am Ende des Korridors aufschloss, am ganzen Leib zitterte.
Dem äußeren Anschein nach zu urteilen, war Ivalaine noch nicht lange tot. Auch wenn ihre Haut blass und so unnachgiebig wie Ton war, fühlte sie sich dennoch wärmer an als die feuchte Luft der Zelle. Sie hockte zusammengesunken an der Wand, ihr flachsblondes Haar war verfilzt, ihre hellen, weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Um sie herum hatte sich auf dem Boden eine Lache aus Blut gebildet, das aus den langen Wunden an beiden Handgelenken floss.
Lirith stieß ein wortloses Wimmern aus. Sie wäre zusammengebrochen, hätte Sareth sie nicht gehalten, und sie drückte das Gesicht gegen seine Brust. Der Wächter starrte die Leiche der Königin mit offenem Mund an.
Ein seltsames Gefühl überkam Aryn. Eigentlich hätte sie auf die Knie fallen und weinen müssen. Stattdessen blieb sie stehen. Alles in dem Raum erschien grau und verblichen. Ivalaine war so stark gewesen, so lebendig. Sicherlich hatte ihr Tod das Netz der Weltenkraft selbst zerrissen.
Nein, es war mehr als das. Aryn schloss die Augen. Sie konnte sehen, wie die Stränge der Weltenkraft in schlängelnder Bewegung waren und eine dunkle Leere im Netz des Lebens füllten.
Aryn riss die Augen auf. »Jemand anderes war hier!«
Ihre Worte rissen den Wächter aus seiner Lähmung. »Unmöglich, Euer Hoheit! Seit man die Königin früher am Nachmittag brachte, habe ich an dieser Tür gestanden. Ich habe niemanden hineingehen sehen.«
Aryn hatte keinen Zweifel daran, dass der Mann die Wahrheit sagte. »Holt den König«, sagte sie. »Sofort.«
Der Mann nickte und eilte aus der Zelle.
»Sie hat es selbst gemacht«, sagte Sareth voller Trauer und Entsetzen. »Sie konnte Teravian nicht das Leben nehmen, also nahm sie sich ihr eigenes.«
»Tatsächlich?« Aryn verspürte eine seltsame Klarheit; sie sah alles, als würde es von tausend Kerzen erhellt. »Und wie hat sie es gemacht?«
Bis auf eine Holzschale voller Wasser war die Zelle leer.
Sareth schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat sie sich die Handgelenke mit den eigenen Nägeln aufgeschlitzt.«
Aryn kniete neben der Königin nieder und beachtete nicht, dass sich der Saum ihres Gewandes mit Blut vollsog. Sie berührte Ivalaines Hand; die Fingernägel waren bis auf das Nagelbett abgekaut.
»Jemand hat ihr das angetan.« In ihr flammte Zorn auf und brannte Übelkeit und Trauer hinweg. »Jemand, der die Befürchtung hatte, die Königin könnte in ihrem Wahnsinn Dinge preisgeben – etwas, das andere geheim halten wollten.«
Lirith löste sich von Sareth. »Aber wer,
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