Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
Abfahrt des Zuges kommen würde; danach Ausschau zu halten würde ihn für eine Weile beschäftigen.
Beltan sah hellwach aus; seine grünen Augen funkelten eifrig. Er hatte das Pflaster von der Wange entfernt; die Wunde war kaum noch eine Schramme, so als hätte er sie bereits vor einer Woche bekommen.
Das ist das Elfenblut in ihm. Darum erholt er sich so schnell.
Deirdre wünschte sich, selbst etwas Elfenblut in den Adern zu haben. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Nicht, dass sie es nicht gewollt hätte; sie war müder, als sie sich erinnern konnte, jemals gewesen zu sein. Aber der Frieden, den der Schlaf brachte, war für andere Menschen bestimmt, für andere Zeiten. Sie hatte an dem Tisch in ihrem Hotelzimmer gesessen und in Marius' Tagebuch gelesen, das sie aus dem Herrenhaus mitgenommen hatte.
So sicher, wie das Elfenblut Beltan verändert hatte, hatte das Tagebuch und das in seinen Seiten enthaltene Wissen Deirdre verändert. Nachdem sie es gelesen hatte, würde sie nie wieder dieselbe sein. Aber wer würde sie sein, hatte sie sich gefragt, als sie ganz allein in ihrem Zimmer saß. Statt zahllosen Möglichkeiten sah sie nichts. Gar nichts. Die Antwort auf diese Frage würde warten müssen, bis das erledigt war, was vor ihr lag, ob im Guten oder im Schlechten.
Sie hatte die letzte Stunde damit verbracht, das Lied Feuer und Staunen immer wieder leise zu singen. Wie zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, ganz kurz davor zu stehen, seine Bedeutung zu verstehen, und sie hatte sich gewünscht, ihre Mandoline zu haben, denn ihr Verstand schien immer besser zu funktionieren, wenn sie das Instrument in Händen hielt. Aber die Mandoline befand sich in ihrer Wohnung in London, und so nahe sie auch vor der Erkenntnis stand, hätte sie genauso gut tausend Meilen davon entfernt sein können. Sie kam einfach nicht darauf, was das Lied bedeutete. Als sich die Zeit zum Aufbruch genähert hatte, hatte sie sich dabei ertappt, wie sie das Telefon anstarrte. Schließlich hatte sie es genommen und die Nummer des Krankenhauses gewählt. Und sofort wieder aufgelegt. Anders würde leben; das war alles, was sie wissen musste.
Mit einem leisen Grollen setzte sich der Zug in Bewegung. Deirdre sah den Bahnsteig vorbeihuschen. Eine große Gruppe von Menschen in weißen Laken stand dort versammelt und hielt Schilder hoch, so wie immer. Aber sie zeigten keine Worte oder dunkle Punkte mehr. Stattdessen waren sie vollkommen schwarz. Verschlungen.
Das Fenster neben Deirdre wurde kurz schwarz. Dann fuhr der Zug in den verregneten Morgen. Die Welt war noch da – für den Moment.
»Und, hast du einen Plan, wenn wir in London sind?«, fragte Beltan leise.
»Ich arbeite daran«, erwiderte sie und hoffte, zuversichtlicher zu klingen, als sie sich fühlte. Obwohl sie die ganze Nacht über wach geblieben war, hatte sie immer noch keine Ahnung, wie sie vorgehen wollten, wenn sie in London eintrafen.
»Die Philosophen können getötet werden, das wissen wir jetzt.«
»Ich weiß.«
»Ich werde mich nicht zurückhalten, wenn sie sich uns in den Weg stellen, Deirdre.« Ein gefährliches Funkeln lag in seinen Augen. »Sie haben die Scirathi auf Travis gehetzt. Sie haben ihn beinahe getötet, und Nim auch. Es ist mir egal, dass sie unsterblich sind. Für mich sind ihre Leben verwirkt.«
Der fröhliche blonde Mann, der Essen, Bier und schrecklich schlechte Witze mochte, der hübschen Männern auf der Straße nachsah, war verschwunden. Deirdre hatte in den letzten Jahren ganz vergessen, wer Beltan wirklich war, aber in diesem Augenblick fiel es ihr wieder an. Er war ein Mann des Krieges. Und er wusste, wer sein Feind war.
»Ah«, sagte Beltan erfreut. »Da kommt der Wagen mit den Erfrischungen.«
Anscheinend wollte der Servicemitarbeiter – ein blasser junger Mann – in den vorderen Teil des Zuges, um dort anzufangen, aber Beltan schob einen großen, stiefelbekleideten Fuß in den Weg, und der Wagen musste ruckartig anhalten. Der junge Mann schien protestieren zu wollen, dann schluckte er nach einem Blick auf Beltan die Worte herunter.
»Kaffee, bitte«, sagte der Ritter. »Und eines von den klebrigen Teilchen. Nein, geben Sie mir besser zwei.«
Der Servicemitarbeiter gehorchte, dann schob er den Wagen so schnell weg, dass die Räder quietschten.
Beltan wollte sich über das zweite Teilchen hermachen, als er Deirdre einen schuldbewussten Blick zuwarf. »Du wolltest doch keines, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. Genau wie
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