Die letzte Schlacht
Arvan.«
»Herine, tu bitte nichts Überstürztes. Ich will nicht, dass du dich selbst zum Sündenbock machst«, warnte Vasselis sie. »Du bist ja ganz außer dir.«
Wieder lächelte Herine ihn an.
»Überstürzt? Nein, ich habe seit Tagen über nichts anderes nachgedacht. Ich bin auch kein Sündenbock. Ich bin schuldig, Arvan. Oder etwa nicht? Ich bin verantwortlich, und die Aufgestiegenen müssen verschont werden, weil sie nur meinen Befehl befolgt haben.« Sie legte Vasselis eine Hand auf den Arm und drückte fest zu. »Das verstehst du doch, oder?«
Er wollte antworten, doch sie kam ihm zuvor.
»Ich weiß, dass du es verstehst, und du wirst es allen erklären.
Begehe nicht die gleichen Fehler wie ich, Arvan. Behüte meine Konkordanz, bis mein Sohn zurückkehrt.«
»Ich … ja, das will ich aber …« Vasselis hielt inne. »Ich verstehe es nicht.«
»Doch, du verstehst es, Arvan. Du verstehst es.« Sie beugte sich vor und küsste ihn noch einmal auf die Wange. »Lebewohl«, flüsterte sie.
»Was?«
Herine ließ seinen Arm los, schritt zielstrebig zum Fenster, das den Hof überblickte, und stürzte sich hinab.
22
859. Zyklus Gottes,
5. Tag des Genasab
V asselis würde Tulines Schrei sein Lebtag nicht mehr vergessen. Nachdem sie einen Schritt zum Fenster gemacht hatte, drehte sie sich um und lief schreiend durch die Flure und die Treppen hinunter. Vasselis folgte ihr sofort und blieb nur noch einmal kurz an der Tür stehen. Die Mitglieder des Rates der Sprecher hatten sich nicht gerührt und starrten einander sprachlos an.
»Jetzt habt Ihr, was Ihr wolltet«, sagte Vasselis. »Nun geht.«
»Das wollte keiner von uns«, sagte der Sprecher der Erde leise.
Vasselis nickte.
»Hebt die Belagerung auf«, sagte er. »Seht nur, welchen Schaden dieser Konflikt angerichtet hat. Zum letzten Mal: Evakuiert die Bürger und denkt über die Tragödie nach, die sich heute hier abgespielt hat.«
Dann folgte er Tuline die Treppen hinunter. Vier Stockwerke lang betete er, dass Herine gegen jede Erwartung überlebt hatte. Vasselis konnte sich nicht einmal ansatzweise ausmalen, was sie zu diesem Sprung veranlasst hatte. Zu viele Stunden, die sie allein und brütend verbracht hatte oder die Last der neuen Schuld – beides hätte nicht ausgereicht, die Herine Del Aglios zu brechen, die er kannte.
Vor dem Palast war bereits ein Tumult entstanden, als er durch die Säulengänge und Gärten eilte, vorbei an all den fröhlich zwitschernden Vögeln. Rufe hallten durch die Korridore. Aus einem Seitengang kam die Ärztin des Palasts mit drei Pflegern gerannt. Mit ihnen zusammen bahnte Vasselis sich einen Weg durch die Soldaten, die sich auf den Stufen vor dem Gebäude die Hälse verrenkten.
Er brüllte sie an, Platz zu machen, worauf sich vor ihnen eine Gasse öffnete. Ein Kreis von Menschen war entstanden, den man kaum durchbrechen konnte. Aus seiner Mitte drangen Tulines Schreie. Er schob sich an den Schaulustigen vorbei, die sich so rasch versammelt hatten.
»Mutter! Mutter!«
Tuline hatte die Advokatin in die Arme genommen und den Kopf auf ihren Schoß gebettet. Herines Arme waren leblos, ihre schlaffen Hände lagen auf dem Pflaster. Hier und dort entdeckte Vasselis Blut, und wenn er zu den Sprechern hinaufschaute, die droben am Fenster standen, konnte er ermessen, wie tief sie gestürzt war. So tief war sie gestürzt, und kein Laut war über ihre Lippen gekommen.
Vasselis starrte die Gaffer in der vordersten Reihe an, die still waren und nur mit den Füßen scharrten.
»Habt ihr nichts zu tun?«, grollte er. »Du da. Hol mir Decken, Laken, was auch immer. Etwas, damit die Advokatin und ihre Ärzte abgeschirmt sind. Ihr anderen, wagt ja nicht, sie anzustarren. Glaubt nicht, ihr könntet die Schmerzen der Tochter oder meine eigenen verstehen.«
Die letzten Worte brachte er nur noch erstickt hervor, dann wandte Vasselis sich ab und führte die Ärztin und ihre Helfer zu Tuline. Er kniete neben ihr nieder und konnte nichts weiter tun, als sie in den Arm zu nehmen.
»Lass sie ruhen«, sagte er leise. »Leg sie hin.«
»Nein!«, klagte Tuline. »Bitte, das darf doch nicht wahr sein! Bitte!«
»Für sie ist es jetzt vorbei«, flüsterte Vasselis. »Deine Mutter hat ihren Frieden gefunden. Sie geht in die Umarmung Gottes ein und wartet dort mit deinen Vorfahren, bis ihre Zeit erneut gekommen ist.«
Tuline weinte und umarmte Herine nur noch fester, wobei sie leicht schwankte. Auch Vasselis konnte die Tränen
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