Die Letzte Spur
mit der besten und unschlagbarsten Argumentation wäre sie nicht zu ihm durchgedrungen. Er war verletzt und wütend und hatte riesige Probleme mit seinem Sohn, und alles andere interessierte ihn nicht.
»Ich melde mich wieder«, sagte sie daher hastig, eilig bemüht, das unerquickliche Gespräch möglichst rasch zu beenden. »Ich fahre noch heute nach Kingston St. Mary. Bis bald, Dennis!«
»Grüße deinen Vater«, erwiderte er förmlich, dann legte er auf.
Sie steckte ihr Handy ein, widerstand der Versuchung, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, Tränen, die nicht allein aus Dennis' Verhalten resultierten, sondern aus allen Geschehnissen der letzten vierundzwanzig Stunden.
»Nicht heulen. Einfach die nächsten Schritte gehen«, sagte sie laut zu sich selbst, und zwei Passanten drehten sich überrascht nach ihr um.
Was waren die nächsten Schritte?
Ins Hotel fahren, packen, die Rechnung mit ihrer Kreditkarte zahlen, die über Dennis' Konto lief, und hoffen, dass das funktionierte.
Sich von Pamela Luke verabschieden, falls sich diese im Hotel aufhielt und nicht im Büro von Inspector Fielder – was weit wahrscheinlicher war.
Zum Bahnhof fahren, eine Zugverbindung nach Taunton ausfindig machen.
Von daheim aus versuchen, Rob zu erreichen. Das Gespräch mit ihm würde sie nicht auf der Straße und in Eile führen.
Heute Abend würde sie in ihrem alten Zimmer in ihrem Elternhaus in Kingston St. Mary schlafen, und bei diesem Gedanken wurde ihr leichter zumute. Auch als erwachsene Frau brauchte man manchmal ein Nest, in das man flüchten konnte. Sie hatte immer ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Vater gehabt. Vielleicht konnte sie ihm alles erzählen. Von ihrer Ehe mit Dennis. Davon, wie unglücklich sie stets in Gibraltar gewesen war. Von Marc Reeve, der …
Bei dem Gedanken an Marc Reeve hielt sie inne.
Das war das Allererste, was sie tun musste. Sie musste Marc anrufen. Sie musste sich verabschieden, ehe sie nach Kingston St. Mary aufbrach.
3
»Mir gefällt da etwas nicht«, sagte Inspector Fielder mit nachdenklich gerunzelter Stirn. Er saß in einem Cafe in Mayfair, trank einen doppelten Espresso und aß ein Hörnchen, das so trocken war, als stamme es aus lang vergangenen Zeiten. Sein Frühstück war an diesem Tag ausgefallen, sein Abendessen am Vorabend ebenfalls. Einem plötzlichen Gefühl von Kreislaufschwäche nachgebend, war er den Ermahnungen seiner Mitarbeiterin Christy McMarrow gefolgt und hatte sich zu einer Mahlzeit und einem Kaffee überreden lassen. Er und Christy hatten Pamela Luke in ihrem Hotel aufsuchen wollen, aber die junge Frau war nicht dort gewesen. Ihr Zimmerschlüssel lag an der Rezeption. Der Portier hatte erklärt, Miss Luke habe das Hotel gegen acht Uhr am Morgen verlassen.
»Sie hat nicht ausgecheckt«, hatte er erklärt, »und Gepäck hatte sie auch keins.«
»Sie besitzt ja auch kein Gepäck«, hatte Fielder geknurrt, mit unruhigen Blicken das Foyer absuchend, »es merkt keiner, ob sie abreist oder einfach nur spazieren geht.«
»Weshalb sollte sie abreisen?«, hatte Christy gefragt, dann war ihr die Blässe im Gesicht ihres Chefs aufgefallen, und nach einigem Hin und Her hatte er zugegeben, dass diese mit seinem niedrigen Blutzuckerspiegel zusammenhängen mochte. Da sie über den Fall Wavers sprechen wollten, ihnen die Sitzgruppen in der Halle aber zu offen waren und anderen Gelegenheit zum Mithören boten, hatte Christy ihn in das Cafe bugsiert, das in Sichtweite des Hotels lag. Wenn Pamela aufkreuzte, würden sie sie sehen.
»Was gefällt Ihnen nicht?«, fragte Christy. Sie hatte lediglich ein Mineralwasser bestellt, weil sie dringend abnehmen wollte. »Dass sie nicht im Hotel ist?«
»Immerhin war vereinbart, dass sie sich ständig zu unserer Verfügung hält.«
»Aber sie wird doch verrückt, wenn sie nur in ihrem Zimmer sitzt. Vielleicht muss sie auch mal irgendetwas kaufen – Zahnpasta oder Strümpfe oder eine Gesichtscreme. Wir hatten uns nicht angekündigt.«
»Als ich bei den Biggs fertig war, habe ich versucht, sie anzurufen. Aber da war sie schon nicht mehr in ihrem Zimmer.«
Christy McMarrow fand das nicht so verwunderlich. Pamela Luke hatte eine Menge hinter sich. Gestern hatte man sie mit einem Polizeiauto von Taunton nach London gebracht. Stundenlang hatte Fielder mit ihr geredet. Die Nacht davor musste ein einziger Albtraum für sie gewesen sein, die Konfrontation mit ihrem einstigen Peiniger, Cedrics schwere Verletzungen, der
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