Die Letzte Spur
Universität gegangen wäre, hätte sie sich nicht nach dem Tod beider Eltern um den schwerstbehinderten Bruder kümmern müssen. Sie war nie aus Somerset herausgekommen, hatte wohl etwas von einem Freund erzählt, aber den kannte keiner. Sie dürfte sehr unerfahren gewesen sein. Auf Fotos sieht man eine pummelige junge Frau, die wohl kaum je mit einem Lippenstift Bekanntschaft gemacht hat. Völlig unscheinbar. Der Typ des ewigen Mauerblümchens, das von niemandem richtig wahrgenommen wird. Garantiert nicht die Frau, mit der Wavers etwas angefangen hätte. Und nicht die Frau, die Malikowski für das horizontale Gewerbe rekrutiert hätte. Im Übrigen habe ich auch nicht den Eindruck, dass sie Männern wie den beiden auf den Leim gegangen wäre. Bei aller Unerfahrenheit – ich schätze sie als einen Menschen mit einem durchaus stabilen Wertesystem ein.«
»Aber irgendwie muss ihr Pass in Malikowskis Wohnung gekommen sein.«
»Irgendwie muss ihr Pass in die Hände von Pamela Luke gekommen sein«, korrigierte Fielder.
Christy McMarrow zog sich unauffällig das verschmähte Hörnchen ihres Chefs heran und brach sich ein Stück ab. Ihre Diät währte bereits zwei Wochen. Sie war so hungrig, dass sie in die Tischplatte hätte beißen mögen.
»Und Sie meinen, Pamelas Geschichte stimmt nicht?«
»Ich meine nur, dass es ein paar Ungereimtheiten gibt. Vielleicht tue ich ihr Unrecht, aber ich möchte über nichts hinweghuschen, was mir gegen den Strich geht.«
Christy brach das nächste Stück von dem Hörnchen ab. »Ziehen Sie in Erwägung, dass Pamela Luke selbst Elaine Dawson umgebracht und ihren Pass an sich genommen hat?«, fragte sie unverblümt. »Verstehe ich Sie da richtig?«
»Sagen wir so, ich halte es sowohl instinktiv als auch auf Grund meiner – sicher noch sehr oberflächlichen – Auseinandersetzung mit der Person Elaine Dawson für wahrscheinlicher, dass sich dieses junge Mädchen vom Land , das von jedem, der sie kannte, als extrem schüchtern und ängstlich beschrieben wird, von einer Frau einwickeln ließ als von einem Mann. Zumal von Männern wie Wavers und Malikowski, denen die Gewaltbereitschaft und Primitivität ins Gesicht geschrieben steht.«
»Aber wie soll das vor sich gegangen sein?«, wollte Christy wissen.
Fielder zuckte mit den Schultern. »Um das zu erfahren, müssten wir eine Aussage von Pamela Luke haben. Ich denke mir, was sie uns erzählt hat, stimmt bis zu einem gewissen Punkt. Sie hat den Mord an Jane French beobachtet und war von da an traumatisiert. Sann Tag und Nacht nur auf Flucht. Wusste aber zugleich, in welche Gefahr sie das brächte. Ihre Papiere hatte Wavers ihr weggenommen. Aber selbst wenn sie sie noch gehabt hätte: Sie konnte nicht einfach nur abhauen und irgendwo anders ein neues Leben beginnen. Sie musste sich selbst eine neue Identität geben.«
»Und da lief ihr Elaine Dawson über den Weg?«, fragte Christy skeptisch.
»Elaine Dawson hat am frühen Morgen des 11. Januar 2003 die Wohnung von Marc Reeve, dem Anwalt, der ihr Unterkunft geboten hatte, verlassen. Er sah sie in die U-Bahn steigen, mit der sie nach Heathrow wollte, um eventuell einen Flug zu ergattern, der sie noch rechtzeitig zur Hochzeit ihrer Freundin nach Gibraltar bringen konnte. Gesetzt den Fall, Reeves Aussagen stimmen – und es gab offenbar nie einen Anhaltspunkt dafür, dass das nicht der Fall wäre –, dann können wir auch seiner Behauptung Glauben schenken, dass Elaine ratlos und verzweifelt war und das Leben als Pflegerin ihres Bruders als zunehmend unerträglich empfand. Sie soll Reeve gegenüber mehrfach den Wunsch geäußert haben, überhaupt nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Tatsache ist, sie ist nicht nach Gibraltar geflogen. Sie ist verschwunden.«
»Und Sie meinen, in der U-Bahn saß zufällig auch Pamela Luke, die beiden kamen ins Gespräch, Elaine erzählte von ihren unguten Lebensumständen, woraufhin Pamela ihr Gott weiß was versprach – einen tollen Job, ein tolles neues Leben. Stattdessen lockte sie sie jedoch irgendwohin in die Einsamkeit, murkste sie ab und nahm ihren Pass an sich. Versteckte die Leiche so perfekt, dass niemand sie je fand. Entschuldigen Sie, Chef, aber für mein Dafürhalten klingt das sehr konstruiert.«
»Sie kann jedenfalls verdammt gut schießen, unsere Miss Luke.«
» Sie meinen … ?«
»Ich meine, dass der bravouröse Fangschuss, mit dem sie vorletzte Nacht Pit Wavers umbrachte, kein Zufallstreffer war. Zumindest sollten wir das nicht
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