Die Letzte Spur
an diesem Tag noch keine Zeitung gelesen. Es war ihr wichtig, jeden Tag in ein Blatt zu schauen. Nicht wegen der Politik, die im Land betrieben wurde, auch nicht, weil sie irgendetwas interessierte, was im Ausland geschah. Seit fünf Jahren hegte sie eine einzige Hoffnung: einmal eine kleine Meldung in einer Zeitung zu finden, die ihr berichtete, dass Pit verhaftet worden war. Dass er für viele Jahre im Knast verschwinden würde. Oder, noch besser: Bei seiner Festnahme hätte er sich einen Schusswechsel mit der Polizei geliefert und wäre dabei ums Leben gekommen. Tot. Ausgelöscht. Ungefährlich. Knochen in der Erde, nicht mehr.
Sie wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass überhaupt eine Zeitung davon berichten würde, selbst wenn das Ersehnte passieren sollte. Pit, wie auch sein Freund Ron, waren kleine Fische. Oder auch nicht. Fand erst jemand heraus, was alles auf ihr Konto ging – vielleicht waren sie dann doch eine Meldung wert. Sie musste jedenfalls am Ball bleiben.
Die Zeitung in der Hand, trabte sie weiter. Im Laufen warf sie einen Blick auf die Titelseite.
Grausamer Mord im Epping Forest lautete die Schlagzeile. Darunter abgebildet war das Foto eines noch sehr jungen, hübschen blonden Mädchens. Wer ist Linda Biggs' Mörder? wurde gefragt, und weiter, besonders fett gedruckt: Wer tut so etwas?
Dann folgten die Details. Sie las. Sie blieb stehen. Sie dachte nicht mehr an den Bus, den sie erreichen musste. Sie dachte nur noch: Wie Jane French.
Mein Gott, wie Jane French!
Es war, als habe sie gerade eine Nachricht von Pit bekommen.
Nur nicht die, auf die sie gehofft hatte.
Erst am späten Mittwochnachmittag war Angela allein in der Wohnung und wagte sich an den Computer ihres Bruders Patrick. Genau genommen war sie nicht ganz allein, denn Sally war da, lag aber im Wohnzimmer auf dem Sofa und hatte ein starkes Beruhigungsmittel genommen, das zusammen mit ihrem wie üblich reichlich konsumierten Alkohol eine geradezu umwerfende Wirkung entfaltete: Sie hatte es gerade noch bis zu ihrer Liegestatt geschafft, dann waren ihr buchstäblich die Beine weggeknickt, sie war umgekippt und lag nun im Tiefschlaf. Ihr Mund stand leicht offen, ihre gequälten Gesichtszüge entspannten sich. Angela gönnte es ihr. Auf die Katastrophe, die unvermittelt in ihr Leben hereingebrochen war, reagierte Sally so, wie sie schon immer auf alle Probleme reagiert hatte: Sie suchte die Betäubung im Schnaps. Diesmal jedoch gelang es ihr nicht, im Rausch Entspannung zu finden, selbst die Trunkenheit nahm ihr nicht die Gedanken und die Bilder, die sie folterten. Mit Hilfe des Medikaments fand sie nun etwas Ruhe.
Gordon, der seit dem Abschied von Inspector Fielder nur in der Küche gesessen und vor sich hin gestarrt hatte, war plötzlich aufgestanden und hatte erklärt, hier in der Wohnung verrückt zu werden, er müsse hinaus an die frische Luft, laufen, atmen, irgendetwas tun. Er war kreidebleich gewesen, als er seine Stiefel anzog, seinen Anorak griff und mit lautem Türenschlagen hinausging. Angela wusste, er versuchte vor den Bildern davonzulaufen, die ihn peinigten, die sie alle peinigten: die Bilder von Lindas letzten Lebensstunden, letzten Lebensminuten. Es ging nicht nur darum, dass sie eine Tochter, eine Schwester verloren hatten, sie mussten von nun an mit der Tatsache leben, dass einem Mitglied ihrer Familie auf schlimmste Art Gewalt angetan worden war, Gewalt, die einen tödlichen Ausgang genommen hatte. Linda war nicht friedlich gestorben. Sie war durch die Hölle gegangen, war missbraucht und gequält worden, hatte vermutlich um ihr Leben gekämpft und gebettelt, sich mit aller Kraft gewehrt und doch nie den Hauch einer Chance gehabt.
»Lindas Mörder war ein Psychopath«, hatte Fielder erklärt. »Linda wurde sadistisch gequält. Wer das getan hat, ist krank. Und hochgradig gefährlich.«
Es ist entsetzlich, dachte Angela, das werden wir alle für den Rest unseres Lebens mit uns herumtragen. Das wird uns nie mehr verlassen.
Nichts würde je wieder normal sein.
Die Jungs, von denen keiner heute in der Schule gewesen war, waren nacheinander verschwunden, wohin, wusste niemand. Wahrscheinlich hingen sie irgendwo mit ihren Cliquen herum, rauchten Zigaretten, kickten Bierdosen umher, taten sich vielleicht mit markigen Sprüchen hervor. Lindas Bild war am Morgen in mehreren Zeitungen gewesen. In Islington wusste man, welcher Schicksalsschlag die Biggs' getroffen hatte. Angela konnte sich vorstellen, dass sich ihre
Weitere Kostenlose Bücher