Die letzte Visite
werdet
ihr anderen nacheinander verhaftet und hingerichtet. Und dann wird der Laden
geschlossen.«
»Diese unerbittliche Folgerichtigkeit
ist beklemmend«, sagte ich aus dem Fenster hinaus. »Meinen Sie im Ernst, Nogees
hat was gegen Sie?«
»Warum sollte er nicht? Er sah ganz so
aus.«
»Bei dem hat das nichts zu bedeuten.
Ich hab’ auch gedacht, er hätte was gegen mich, als ich Anna gefunden hatte und
dann Inge. Scheint nicht so zu sein. Er hat nur so eine angenehme, offene Art,
einen an seinen Kombinationen teilnehmen zu lassen und einem zu erklären,
weswegen man als Täter durchaus in Betracht käme. Da müssen Sie sich nichts
daraus machen. Plötzlich ist er auf einer ganz anderen Fährte.«
»Im Augenblick, fürchte ich, ist er auf
gar keiner«, murmelte Pinkus. »Wie ist es? Wollen wir uns auf die Fährte zum
Eisschrank begeben und was für besseren Appetit tun?«
»Gern«, erwiderte ich, »trotz des
bevorstehenden Zusammenbruchs.«
Wir holten Bier. Pinkus trank
schweigend. Ich dachte mit Behagen an den Nachmittag mit Petra und trank
heimlich auf ihr Wohl.
Ich war offenbar der einzige, der an
diesem Abend guter Laune war. Auch als Bierstein und Fräulein Stagg kamen,
änderte sich die Stimmung nicht. Keiner von den drei anderen sprach mehr als
das Notwendigste. Sie trauten einander nicht mehr. Eigentlich ein Segen, dachte
ich. Du Aveißt, daß du es nicht gewesen bist. Ganz sicher nicht. Wissen es die
anderen von sich auch so gewiß? Es war wie früher in der Schule, wenn der
Lehrer nach einem Schuldigen suchte, und man kannte ihn und war im Herzen froh,
daß man es diesmal nicht gewesen war.
Die Tafel wurde bald aufgehoben.
»Na, dann gute Nacht«, sagte Bierstein
und verschwand. Die beiden anderen folgten. Ich blieb allein zurück, trank noch
in Ruhe ein Bier und bemühte mich, wenig zu denken. Die Schwesternschülerin
begann abzuräumen. Ich wünschte ihr eine friedliche Nacht und ging auf mein
Zimmer. Eine Weile las ich noch.
Dann zog ich mich aus. Es war heiß an
diesem Abend. Ich legte mich, nur mit der Schlafanzughose bekleidet, aufs Bett.
Das Fenster stand weit geöffnet, die Mücken geisterten mit feinem Surren um
meine Gestalt. Manchmal schrie ein Nachtvogel vom Park her. Es war ein Abend
wie der, an dem Anna ermordet worden war, und schon klebten meine Gedanken
wieder an der verfluchten Geschichte.
Der Mörder lief zwischen uns herum,
frei wie der nächtliche Vogel oben in den Bäumen. Atmete die gleiche Luft,
schlief wie wir, aß wie wir. Es gab einen Haufen Mordfälle in der Kriminalgeschichte,
die niemals aufgeklärt worden waren. Warum nicht auch dieser?
Wie eine Kette gingen die vergangenen
Tage Glied um Glied durch mein Gedächtnis. Annas stämmige Gestalt auf dem
Rasen, als sie ihren letzten Weg antrat. Inges Blut unter meiner haftenden
Sohle. Ich fühlte es so deutlich, daß ich unwillkürlich den Fuß unter der Decke
anzog. Der sterbende Bergius mit den spitzen Pupillen. Das Rot und Blau der
Morphiumprobe im Pathologischen Institut.
Mir war, als fehlte etwas. Ein kleines
Stück, das ich erlebt und wieder vergessen hatte. Ich wußte, daß ich schon
einmal danach gesucht hatte, damals beim Mittagessen, als Maria vom verschwundenen
Streptomycin berichtet hatte. Ein ärgerliches Gefühl, wenn man nach einer
Melodie oder einem Namen sucht und nicht dahinterkommt. Es liegt auf der Zunge,
sagt man so schön, aber an irgendeiner Schaltstelle im Gehirn ist die Weiche
falsch gestellt. Also noch mal von vorn. Ich schloß die Augen und quälte mich
wieder durch die Ereignisse. Plötzlich war Petra im Badeanzug dazwischen, und
aus war es.
Außerdem hatte ich Schweiß im Gesicht.
Elende Hitze. Ich schlug die Decke zurück, tastete mich im Dunkeln zum
Waschbecken, rieb das Gesicht ab und ließ kühles Wasser über die Hände laufen.
Es verdunstete schnell. Ich trat ans Fenster, hielt mich mit beiden Händen an
den geöffneten Flügeln fest und machte ein paar Atemübungen. Der Mond hing am
Himmel wie eine matte Münze. Als ungeheure Schachfigur stand der Turm in der
Nacht. Ich stellte mir vor, wie ich oben stände und auf mich selbst
herunterguckte. Das wäre ein Witz. Bold auf dem Turm und Bold am Fenster. Ich
mußte grinsen über den Blödsinn. Wie oft hatte ich dort oben gestanden? Ich
rekapitulierte. Das erstemal allein. Dann war Petra gekommen. Beim zweitenmal
wieder allein, und da war die Stagg erschienen an Petras Stelle. Und da...
Jetzt! Training bringt Erfolg! Jetzt war es mir
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