Die letzte Zeugin
blauen Flecken gefunden worden – von einer Mutter, die es fertiggebracht hatte, ein traumatisiertes, verängstigtes Kind zu verlassen.
Er setzte den Wasserkessel auf. Er musste ihr Wärme geben, damit sie sich wieder sicher und ruhig fühlen konnte. Er hatte wissen wollen, was sie ihm zu erzählen hatte, aber jetzt wünschte er beinahe, er hätte es ihnen beiden erspart.
Während das Wasser kochte, zog er sein Notizbuch heraus und notierte sich alle Namen, die sie genannt hatte. Dann steckte er das Notizbuch wieder ein und machte ihr Tee.
Sie saß auf der Couch, sehr blass und sehr aufrecht, dunkle Schatten unter den Augen. »Danke.«
Er setzte sich neben sie. »Ich muss etwas sagen, bevor du weitererzählst.«
Sie starrte auf ihren Tee und wappnete sich. »In Ordnung.«
»Nichts von alledem ist deine Schuld.«
Ihre Lippen bebten, aber sie presste sie fest zusammen. »Ich bin schon zum Teil verantwortlich. Ich war noch jung, ja, aber niemand hat mich gezwungen, Ausweise zu fälschen oder in den Club zu gehen.«
»Das ist Quatsch, weil nichts davon dich für das verantwortlich macht, was anschließend passiert ist. Deine Mutter ist ein Monster.«
Sie hob den Kopf und riss die Augen auf. »Meine … dass … sie …«
»Schlimmer noch. Sie ist ein Scheißroboter, und sie hat versucht, aus dir ebenfalls einen zu machen. Sie hat dich von Anfang an wissen lassen, dass sie dich nach ihrem Ebenbild ›erschaffen‹ hat, und du solltest ihr dankbar dafür sein, dass du klug, schön und gesund bist. Noch mehr Blödsinn.«
»Mein genetisches Make-up …«
»Halt den Mund. Ich bin noch nicht fertig. Du musstest anziehen, was sie wollte, studieren, was sie wollte, und ich könnte wetten, dass du auch mit den Leuten umgehen musstest, die sie aussuchte, dass du lesen musstest, was sie aussuchte, und essen, was sie für richtig hielt. Stimmt’s?«
Abigail nickte nur.
»Sie mag nie die Hand gegen dich erhoben haben, hat dich gekleidet, ernährt und dir ein Dach über dem Kopf gegeben, aber Liebling, du bist sechzehn Jahre lang missbraucht worden. Viele Kinder wären einfach weggelaufen oder hätten Schlimmeres angestellt. Du hast dir nur die Haare geschnitten und bist heimlich in einen Club gegangen. Wenn du jemand anderem als dem Schützen und seinem Boss die Schuld geben willst, dann halt dich an deine Mutter.«
»Aber …«
»Warst du jemals in Therapie?«
»Ich bin nicht verrückt.«
»Nein, das bist du nicht. Ich frage ja auch nur.«
»Ich war so lange in Therapie, wie ich denken kann, bis ich von zu Hause weggegangen bin. Sie hatte einen der besten Kindertherapeuten in Chicago engagiert.«
»Also hattest du auch in dieser Hinsicht keine Wahl.«
»Nein«, sagte Abigail seufzend. »Nein, das stand nicht auf ihrer Agenda.«
Er umfasste ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. »Du bist ein Wunder, Abigail. Deine Mutter ist so kaltblütig und kaltherzig, und doch bist du, wer du bist. Denk immer daran. Wenn du bereit bist, kannst du mir jetzt den Rest erzählen.«
»Küsst du mich noch einmal?«
»Darum brauchst du mich nicht zweimal zu bitten.«
Wieder umfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre. Sie schlang die Finger um seine Handgelenke, um ihn noch einen Moment länger dort festzuhalten.
Sie war sich nicht sicher, ob er sie noch einmal küssen würde, wenn sie ihm die ganze Geschichte erzählt hatte.
Sie erzählte ihm von John, von Terry, vom Haus, vom Tagesablauf, von den Verzögerungen. Sie wollte ein bisschen Zeit schinden, gestand sie sich ein. Sie erzählte ihm, wie Bill Cosgrove ihr Poker beigebracht hatte und dass Lynda ihr die Haare frisiert hatte.
»Es war, auf eine schreckliche Art und Weise, die beste Zeit meines Lebens. Ich sah fern, hörte Musik, studierte, kochte, lernte und hatte Menschen, mit denen ich reden konnte. John und Terry – ich weiß, für sie war es nur ein Job, aber für mich waren sie Familie.
Dann kam mein Geburtstag. Ich dachte, sie wüssten nichts davon oder würden sich nichts dabei denken. Aber sie hatten Geschenke für mich und eine Torte. John schenkte mir Ohrringe. Ich hatte mir an dem Tag in der Mall mit Julie die Ohrläppchen durchstechen lassen, und er schenkte mir mein erstes Paar Ohrringe. Terry schenkte mir ein Twinset; es war so hübsch. Ich ging nach oben in mein Zimmer, um die Ohrringe anzulegen und das Twinset anzuziehen. Ich war so glücklich.«
Sie schwieg einen Moment und überlegte, wie sie ihm erklären
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