Die letzte Zeugin
ihr die Stirn – zum ersten Mal in meinem Leben.«
»Das wurde aber auch mal Zeit!«
»Vielleicht, aber es löste eine Kette von schrecklichen Ereignissen aus. Sie packte gerade, weil sie einen anderen Partner auf einer Konferenz vertreten musste. Sie würde eine Woche weg sein. Und wir stritten uns. Nein, das stimmt nicht.« Ärgerlich über sich selber schüttelte Abigail den Kopf.
Es war wichtig, dass sie alles ganz korrekt wiedergab.
»Sie stritt nicht. Für sie gab es nur ihren Weg, und sie zweifelte nicht daran, dass ich letztendlich nachgeben würde. Sie schloss einfach, dass mein Verhalten, meine Forderungen, meine Einstellung eine normale Phase seien. Sie hat es sicher auch in meinen Unterlagen notiert. Und sie reiste einfach ab. Die Köchin hatte zwei Wochen Urlaub, deshalb war ich ganz allein im Haus. Sie fuhr, ohne ein Wort, während ich schmollend in meinem Zimmer saß. Ich weiß nicht, warum ich so überrascht war, dass sie einfach so ging, aber ich war aufrichtig schockiert. Aber dann wurde ich wütend. Ich nahm ihre Wagenschlüssel und fuhr in die Mall.«
»In die Mall?«
»Es klingt so albern, nicht wahr? Zum ersten Mal schmeckte ich die Freiheit, und ich fuhr in die Mall. Aber ich hatte immer davon geträumt, mit Freundinnen durch die Mall zu laufen, über Jungs zu kichern und Kleider anzuprobieren. In der Mall begegnete ich Julie. Wir waren eine Zeitlang zusammen zur Schule gegangen. Sie war ein Jahr älter als ich und so beliebt und hübsch. Ich glaube, sie sprach mich an dem Tag an, weil sie mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte und nicht wusste, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Und von da an passierte alles.«
Sie erzählte ihm, wie es für sie gewesen war, shoppen zu gehen. Wie sie sich die Haare geschnitten und gefärbt hatte, wie sie geplant hatte, Ausweise zu fälschen und in den Club zu gehen.
»Das ist eine Menge Teenager-Rebellion für einen Tag.«
»Ich glaube, es hatte sich alles angestaut.«
»Ja, wahrscheinlich. Konntest du denn mit sechzehn schon Ausweise passabel fälschen?«
»Sie waren exzellent. Gerade Identitätsdiebstahl und Cyber-Verbrechen interessierten mich besonders. Ich glaubte ja, eine Karriere als Ermittler vor mir zu haben.«
»Das würde mich nicht überraschen.«
»Es ist schmeichelhaft, dass du das sagst. An jenem Tag in der Mall machte ich ein Foto von Julie und später auch eins von mir. Ich schnitt mir die Haare und färbte sie schwarz. Pechschwarz. Ich hatte Schminksachen gekauft und schminkte mich damit, wie Julie es mir gezeigt hatte. Ich hatte ja auch die anderen Mädchen auf dem College beobachtet, deshalb wusste ich, wie man es machen musste.«
»Warte mal, ich versuche mir gerade vorzustellen, wie du mit kurzen schwarzen Haaren ausgesehen hast.« Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ein bisschen gothic, ein bisschen schrill.«
»Ich weiß nicht genau. Auf jeden Fall habe ich ganz anders ausgesehen, als meine Mutter es von mir wollte. Vermutlich ging es einzig und allein darum.«
»Ja, natürlich. Aber hinzu kommt, dass du auch ein Recht dazu hattest. Jedes Kind hat das Recht dazu.«
»Möglich. Aber an diesem Punkt hätte ich aufhören sollen. Es wäre genug gewesen. Die Kleidung, die Haare, das Make-up. Und das Programm, bei dem sie mich angemeldet hatte, begann an jenem Montag, und ich hatte schon beschlossen, nicht hinzugehen. Sie wäre außer sich vor Wut gewesen, und das hätte sicher gereicht. Aber ich hörte an diesem Punkt nicht auf.«
»Du warst wie im Rausch«, kommentierte er. »Du hast die Ausweise gefälscht, und ihr seid in einen Club gegangen.«
»Ja. Julie hat den Club ausgesucht. Ich hatte ja keine Ahnung davon, aber ich habe den Club, in den sie unbedingt wollte, im Internet nachgeschaut, und deshalb wusste ich, dass er einer Familie gehörte, von der das Gerücht ging – nein, eigentlich war es bekannt –, dass sie zur russischen Mafia gehörte. Die Volkovs.«
»Ja, den Namen habe ich schon einmal gehört. Wir hatten in Little Rock in der Regel nichts mit Russen zu tun. Ein paar Iren, ein paar italienische Schlägertypen.«
»Sergei Volkov war – ist – der Pakhan , der Boss der Volkov Bratva . Ihm und seinem Bruder gehörte der Club. Ich erfuhr allerdings später, dass er hauptsächlich von Sergeis Sohn Ilya geleitet wurde. Sein Vetter Alexi arbeitete auch dort – zum Schein. In Wirklichkeit trank er dort nur, nahm Drogen und machte sich an Frauen heran. Als wir ihn kennenlernten, hatte ich
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