Die letzte Zeugin
Geld, das ich mit meiner Kunst einnahm – mit meinen Grußkarten habe ich ziemlich viel verdient – und das er von seinem Lehrergehalt gespart hatte, kauften wir ein verfallenes Haus hinter der Shop Street. Wir begannen mit der Renovierung, und schon war Brooks unterwegs. Ich habe es nie auch nur einen einzigen Moment lang bereut.«
Abigail war sich nicht sicher, ob es als Konversation galt, wenn eine fremde Frau ihr die Zusammenfassung ihrer Lebensgeschichte erzählte. Aber es war faszinierend.
»Sie können sich glücklich schätzen.«
»Oh, das tue ich. Wie schmeckt Ihnen der Kuchen?«
Abigail blinzelte und blickte auf ihren Teller. Während sie Sunnys Geschichte lauschte, hatte sie ihr Stück beinahe zur Hälfte aufgegessen. »Wundervoll.«
»Ich gebe Ihnen das Rezept.«
»Ich habe noch nie einen Kuchen gebacken. Ich bin ja alleine, und da erscheint mir ein ganzer Kuchen eher unpraktisch.«
»An einem Kuchen ist sowieso nichts Praktisches. Wir tauschen. Ich gebe Ihnen das Rezept für eines von Ihren Rezepten.«
»Ich weiß ja nicht, was Sie gern mögen.«
»Überraschen Sie mich einfach.«
Abigail überlegte, dann trat sie an ihren Laptop und rief ihre Rezepte-Datei auf. Sie druckte das Rezept für Paprika-Hühnchen aus. »Sie können es nach Geschmack würzen.«
»Das sieht toll aus. Ich glaube, ich fahre auf dem Heimweg am Feinkostladen vorbei, kaufe ein, was ich nicht im Haus habe, und probiere es heute Abend gleich aus. Hier, ich schreibe Ihnen das Rezept für den Kuchen auf.« Sie zog ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche.
»Wissen Sie es auswendig?«
»Ich backe diesen Kuchen schon seit unzähligen Jahren. Es ist Lorens Lieblingskuchen.«
»Sie lächeln, wenn Sie seinen Namen sagen.«
»Ja? Wenn man das Handfasting mitrechnet, sind wir seit sechsunddreißig Jahren miteinander verheiratet. Er macht mich immer noch glücklich.«
Und das, dachte Abigail, als sie wieder allein war, war die faszinierendste Aussage über eine Beziehung. Glück konnte anhalten.
Sie studierte das Rezept, das sie in der Hand hielt. Später würde sie es in den Computer übertragen. Pflichtbewusst räumte sie das Geschirr ab und stellte überrascht fest, wie spät es schon war.
Irgendwie hatte sie gerade mehr als eine halbe Stunde in ihrer Küche verbracht, Kuchen gegessen, Kaffee getrunken und eine faszinierende Unterhaltung mit einer fremden Frau geführt.
»Das bedeutet wahrscheinlich, dass sie mir jetzt nicht mehr fremd ist.«
Sie konnte nicht sagen, wie sie sich dabei fühlte. Sie warf einen Blick auf ihre Arbeit und schaute dann ihren Hund an.
»Ach, zum Teufel. Lass uns spazieren gehen.«
»Was hast du gemacht?« Brooks starrte seine Mutter fassungslos an.
»Du hast mich ganz gut verstanden. Ich habe Abigail einen Kuchen vorbeigebracht, und wir haben uns bei Kaffee und Kuchen sehr nett unterhalten. Ich mag sie.«
»Ma …«
»Ich finde, sozial unbeholfen ist ein passender Ausdruck. Sie ist nicht schüchtern, nur eingerostet, wenn es zum Gespräch kommt. Als wir erst einmal in Fluss gekommen sind, ist es gut gelaufen. Wir haben Rezepte ausgetauscht.«
»Du …« Brooks, der an seinem Schreibtisch saß, ließ den Kopf in seine Hände sinken. »Hast du mir gestern Abend nicht zugehört?«
»Aber natürlich.«
»Es könnte sein, dass sie vor irgendetwas auf der Flucht ist. Vielleicht steckt sie in Schwierigkeiten. Und wenn die Schwierigkeiten sie finden, könnte es sehr gefährlich werden. Und du schaust einfach mal so vorbei, mit einem Kuchen in der Hand?«
»Blaubeerkuchen. Ich musste zwei backen, um die Gefühle deines Vaters nicht zu verletzen. Sie hat eine wundervolle Küche. Und wenn ich mir so das Rezept ansehe, das sie mir gegeben hat, dann muss sie wirklich eine gute Köchin sein. Sie hat auch Kameras oder so was Ähnliches auf dem ganzen Anwesen verteilt. Das habe ich auf ihrem Computer-Monitor gesehen. Sie hat die Zufahrt im Auge, den hinteren Bereich und so weiter.«
»Du lieber Himmel!«
»Sie hat Französisch mit dem Hund gesprochen.«
Er hob den Kopf wieder. »Was?«
»Ich habe mich nur gewundert, warum jemand seinem Hund überhaupt Französisch beibringt. Sie hat sehr nette Umgangsformen. Sie hört dir mit dem ganzen Körper zu. Irgendetwas an ihr hat mich gerührt. Ich schwöre dir, ich hätte sie am liebsten gestreichelt wie den Hund.«
»Du … du hast diesen Riesenköter gestreichelt?«
»Sie hat ihm auf Französisch gesagt, es sei alles in Ordnung. Er ist
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