Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
Deshalb hatten sich dort wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten Men schen angesiedelt und den Ort wieder aufgegeben, als die Bergwerke ausgebeutet gewesen waren. Rosa war in eine Geisterstadt gestolpert. Von der schmutzig weißen Kirche aus luftgetrockneten Ziegeln bis hin zu dem verlassenen, mit Schindeln verkleideten Krämerladen – hier hatte sie eine andere Welt betreten.
Jetzt ließ sie ihren geübten Blick über den Ort schweifen. Alles wirkte wie immer. Gut. Keine Plünderungen in ihrer Abwesenheit. Die Möglichkeit bereitete ihr immer Sorgen, wenn sie eine große Anzahl kampftüchtiger Männer mitnahm, um Vorräte zu requirieren. Eine ganze Menge feindlicher Gruppierungen hätte hier gern einen Fuß in die Tür bekommen, vor allem Peltz. Seine schmuddelige Bande verlegte ihr Lager aber so häufig, dass sie kaum auffindbar waren.
Aber es war alles in Ordnung. Der junge Bravo am Tor hielt sie an, genauso wie er es tun sollte. Rio war kaum alt genug, sich zu rasieren, aber er hatte harte, wilde Augen. Er war von Gott weiß woher in die Stadt gekrochen gekommen, ganz allein, wie einst auch Rosa. Ein paar Stadtbewohner schimpften über ihre laxe Einwanderungspolitik, aber nachdem sie am eigenen Leibe die volle Härte der unbarmherzigen Antimigrationsmaßnahmen der Neuen Vereinigten Staaten erfahren hatte, konnte sie niemandem Zuflucht verweigern. Neuankömmlinge mussten nur beweisen, dass sie willens waren, sich nützlich zu machen und ihren Regeln zu folgen.
Sofern sie Menschen waren.
Sie lächelte Rio an und betrachtete seine zu weite khakifarbene Hose und die mit Dornen besetzten Lederarmbänder, die Singer für ihn genäht haben musste. Er wirkte wild genug, jemandem die Kehle mit bloßen Händen herauszureißen, und war es auch durchaus. Ihre Bravos hatten allesamt die Seelen von Kamikazefliegern.
»Alles in Ordnung?«
»Totenstill«, sagte Rio mit einem breiten, weißen Lächeln.
Er bedeutete dem Torwächter, sie einzulassen, und der Konvoi fuhr in die eigentliche Stadt. Die halbe Bevölkerung strömte auf die Straße, um zu sehen, was sie mitgebracht hatten. Rufe ertönten, als die Leute die Kisten mit Qualitätswodka sahen.
Viv, die Betreiberin der taberna , belegte die Flaschen gleich mit Beschlag. Sie war eine wettergegerbte kleine Frau Ende vierzig, aber die harte Arbeit hielt sie fit. Ihre alterslosen chinesischen Gesichtszüge und das ungleiche Geschlechterverhältnis verschafften ihr Hilfsangebote von gleich sechs Männern, die sie auch annahm. Ihre eifrigen Gesichter verrieten Vorfreude und die Hoffnung, dass Viv ihnen später Gesellschaft leisten würde.
Rosa hatte sich immer aus diesem Spiel herausgehalten. Es fiel ihr nicht sonderlich schwer. Sie hatte früher genug Stunden unter ächzenden, schwitzenden Männern verbracht, um froh über den Wandel zu sein. Bis auf Falco betrachteten die meisten Bravos sie als la jefa , nicht als Frau, die man zur Feier eines erfolgreichen Überfalls bumste.
Sie knieten vor jeder Unternehmung vor ihr nieder und küssten ihr die Fingerspitzen, nachdem sie einen Bluteid auf Valle de Bravo geschworen hatten. Rosa bestand auf dem Ritual, weil sie wusste, dass so etwas mündlich besiegelte Bindungen verstärkte. Mittlerweile trugen all ihre Bravos Tätowierungen, die ihre Zugehörigkeit demonstrierten. Rosa, die keinen einzelnen von ihnen zu ihrem Mann machte, erhob Anspruch auf sie alle.
Wicker, der den Laden betrieb, übernahm die Ver antwortung für die meisten Waren. Die Stadt betrieb Tauschhandel, und da der alte Mann früher selbstständiger Geschäftsmann gewesen war, kümmerte er sich um die Buchführung. Er war mittlerweile zu alt zum Kämpfen und ohnehin ein ruhiger Typ, der sich gut für diese Aufgabe eignete. Solch eine sinnvolle Beschäftigung war Balsam für seinen Stolz.
Ganz hinten im Laster fanden sie eine ganz besondere Beute: Stoff. Ein leises »Ah!« kam von den Frauen. Neue Kleider. Rosa konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt etwas Neues getragen hatte, das speziell für sie angefertigt worden war. Manchmal tauschten sie untereinander die Kleider, um ein wenig Abwechslung zu haben, aber es war nicht das Gleiche. Das hier würde die Moral heben.
Ein paar Augenblicke lang sah Rosa der Arbeit zu und wurde von dem stillen Gefühl, etwas geleistet zu haben, übermannt. Sie hatte das hier geschaffen, eine Frau, die nie in der Lage gewesen war, einen anständigen Job zu bekommen, ganz egal, wie klug sie war. Mit stolzgeschwellter
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