Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
würde mir viel bedeuten, wenn du es mir erzählen würdest, so, wie du mir das mit deinem Bruder gesagt hast … Aber lauf bitte diesmal danach nicht weg. Bleib.«
Sie erstarrte. Noch eine Forderung. Erzähl mehr. Gib mir mehr. Sag mir alles. Er würde erst glücklich sein, wenn er sie ausgenommen und all ihre geheimen Winkel erforscht hatte. Reflexartig zog sie sich zurück; sie wollte ihm nichts von ihrer Vergangenheit erzählen, die sie selbst immer noch zu vergessen versuchte. Er ließ sie los, aber jetzt verriet sein Gesicht Kummer statt Zufriedenheit.
Mit einem ärgerlichen Schnaufen beschloss sie zu bleiben, wie er sie gebeten hatte. Und zu reden . Dios , er würde sie mit seinem ganzen Gerede noch in den Wahnsinn treiben! Es hatte keinen Zweck, sondern beschwor nur die Geister der Vergangenheit herauf, aber ihr gefiel dieser Blick bei ihm nicht. Als er nach Valle gekommen war, hatte er gehetzt gewirkt. Aber ihre Gesellschaft und das, was sie ihm anvertraute, verliehen ihm ein entspannteres Lächeln. Das ergab auch keinen Sinn, weil die meisten Bravos sie für eine ziemliche Zicke hielten, aber Cristián war einfach nicht normal.
»Gut«, stieß sie hervor. »Als Gutenachtgeschichte bekommst du alles über mein Leben zu hören, sí? No hay problema . Ich erzähle ja so gern davon.«
Er lachte leise, und sein Gesichtsausdruck entspannte sich. Und das gefiel ihr wirklich. Also fuhr sie fort: »Einen Großteil meines Lebens habe ich in Guatemala verbracht. Wir waren arm. Meine Mutter ist gestorben, als wir noch klein waren.« Kurze Sätze, halt dich an die Fakten, lass dich nicht von den Erinnerungen übermannen. »Mein Vater war ein Dreckskerl. Er hat getrunken und uns geschlagen, meinen Bruder und mich. Meine abuelita hat uns beschützt. Sie hat getöpfert. Meinem Vater passte es nicht, dass sie ihm seine Kinder vorenthielt, also hat er la policia eingeschaltet. Sie hätten uns ihm übergeben. Also nahm sie uns eines Nachts, und wir gingen nach Mexiko. Wir sind bis Juárez gekommen. Von dort aus wollten wir in die Neuen Vereinigten Staaten, aber der Wandel machte es unmöglich, die Grenze zu überqueren. Überall waren Armeesoldaten.«
»Wie alt warst du da?«
»Als wir nach Juárez gekommen sind? Fünfzehn. Es ist ein scheußlicher Ort.«
»Ich erinnere mich an die Geschichten darüber.«
Sie schmiegte die Wange an seine Brust und hoffte, dass es helfen würde. Das tat es nicht. »Als wir nicht über die Grenze kommen konnten, griffen wir auf das Geld zurück, das sie mit ihrer Werkstatt in Guatemala verdient und gespart hatte. Sie kaufte ein kleines Haus davon, aber eigentlich hatte sie damit einen Laden eröffnen wollen, wenn wir erst ausgewandert waren.«
»Du musst nicht weitersprechen.« Er streichelte ihr sanft den Rücken und hielt sie im Arm. Und das brachte sie dazu, weitererzählen zu wollen, damit sie nie wieder davon würde sprechen müssen.
»Es war vor langer Zeit. Solange es meiner abuela gut ging, war es in Mexiko nicht unerträglich. Aber dann wurde sie krank. Wir hatten kaum Geld, um eine Behandlung zu bezahlen, also habe ich sie gepflegt, bis sie gestorben ist. Danach hatten wir überhaupt kein Einkommen mehr, und ich hatte einen Bruder, der von mir abhängig war. Der Wandel versetzte alle in Panik. Kein Geld. Keine Arbeitsmöglichkeiten.« Sie hob eine Schulter zu einem halben Achselzucken. »Mir blieb nur eines, was ich verkaufen konnte. Den Rest kannst du dir sicher denken.«
Insgeheim wartete sie still mit gebrochenem Herzen auf sein Urteil. Ein gebildeter Mann wie er würde davon abgestoßen sein, seinen Verdacht bestätigt zu finden. Eine Frau konnte nur aus einem einzigen Grund so sexerfahren sein, ohne sich mit den Feinheiten des Küssens oder einem genussvollen Orgasmus auszukennen. Sie hatte keine Ahnung, warum er darauf bestanden hatte, dass sie ihm alles beichtete, als ob er ein Priester wäre, der ihr ihre Sünden vergeben konnte. Sie fühlte sich überhaupt nicht besser oder sauberer, nur traurig und verängstigt.
Er rückte von ihr ab und bestätigte so ihre stumme Furcht. Aber was er dann tat, erstaunte sie. Er umschloss ihr Gesicht mit den Händen und sah ihr in die Augen. Seine eigenen funkelten vor Zorn.
»Ich würde gern jeden töten, der dir je wehgetan hat«, sagte er leise in ruhigem Ton. »Zuallererst deinen Vater. Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen, weil es mir wehtut, auch nur daran zu denken, aber dann wärst du nicht die Frau,
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