Die letzten Dinge - Roman
Eisbrenner gekommen war, so schnell fuhr sie wieder davon.
Wer weiß, sagte Rosalinde.
Wer weiß, sagte Lotta.
Ihre Stirn war auch so heiß. Vielleicht hatte sie Fieber und ist im Fiebertaumel gefallen.
Wer weiß, sagte Lotta. Sie ging wieder hinaus.
Draußen standen zwölf Kännchen voll Kaffee. Eines davon schüttete Lotta in den Ausguss.
Da waren es nur noch elf.
Bestimmt war im Frühling alles wieder gut.
Im Frühling, wenn die Taunushügel sich begrünten und wenn im Spessart wieder die Vögel sangen, wenn die Weinbauern in Rheinhessen in die Berge gingen und im Odenwald auf den Feldern die gelbe Saat aufging. Dann war alles wieder gut.
Brucks, der Heimleiter, saß in seinem ganz orange gehaltenen Büro mit den vielen Blumen und griff wieder zum Stift.
Kostendeckend mussten sie arbeiten. Wenigstens kostendeckend. Das konnte erst gelingen, wenn alle Betten belegt waren. Noch fünf. Nur noch fünf Betten belegen und sie würden kein weiteres Minus mehr machen.
Wieso glaubte ihm das keiner? Brucks schüttelte den Kopf. Die Schurwolle seines blauen Pullunders kratzte durch das Hemd. Er stützte seinen ergrauten Schädel auf. Eigentlich hatte er ja alles anders machen wollen. Menschenwürdiger, fröhlicher, barmherziger. Er war schließlich Achtundsechziger und auf jeder Demo zu Hause gewesen. Aber die harten Fakten des wirtschaftlichen Systems zwangen ihm ein anderes Denken auf. Eines, das ihn nicht als guten Menschen zeigte, sondern als diktatorischen Ausbeuter. So war es nun mal. Er war gezwungen, Gehälter zu kürzen, den Personalstand zu reduzieren, die Leute auf alten Matratzen liegen zu lassen …
Eben war Schwester Rosalinde da gewesen. Hatte sich beschweren wollen. Dass sie die Arbeit nicht mehr bewältigen könnten und dass sie mehr Personal bräuchten. Sie sei am Ende ihrer Kraft und sie könnte die Pflege so nicht mehr verantworten.
Aber Brucks war ja nicht doof. Er hatte ihr flugs nachweisen können, dass die Station Drei sehr unorganisiert war. Sah man ja an den Dienstplänen. Alles nicht durchdacht, manchmal hatte Rosalinde zwei Leuten auf einmal Urlaub gegeben, das ging einfach nicht. Und die Kranken, ja. Station Drei hatte einfach einen zu hohen Krankenstand. Früher hatte er noch für jeden Kranken eine Aushilfe besorgt und damit hatte er sich in die Miesen geritten, das sollte ihm nie wieder passieren. Wenn Rosalinde die Mitarbeiter nicht motivieren konnte! Sie nicht im Griff hatte und sie ihr auf der Nase herumtanzten? Dieser Ivy, der die halbe Zeit zu spät kam, Gianna hatte in diesem Jahr zwei Monate gefehlt wegen Bronchitis oder was, diese Sarah war schon ewig krank – und Nadjeschda hatte mit einem doppelseitigen Leistenbruch im Krankenhaus gelegen. Alles sehr schlechte Zeichen.
Brucks überlegte, ob er Rosalinde die Stationsleitung noch länger überlassen konnte. Vielleicht war sie einfach nicht mehr so fit, nicht mehr so jung, nicht mehr so schwungvoll? Er wollte sich das alles einmal überlegen, sich personelle Veränderungen vorbehalten. Aber auf gar keinen Fall konnte er mehr Leute einstellen. Er hatte exakt den gleichen Personalschlüssel wie alle anderen Häuser auch. Nicht mehr und nicht weniger.
Brucks hatte versucht, Rosalinde zu trösten. Hatte ihr Tipps gegeben, wie sie ihre Zeit besser einteilen könnte, und dass es wichtig sei, einmal Pause zu machen. Dass er ihr die vielen Überstunden leider nicht bezahlen könnte, die sie ja im Übrigen freiwillig mache. Aber es sei schon sehr wichtig, dass sie auch einmal selbst für sich sorge, sich selbst wichtig nehme. Eine Auszeit nehmen sollte. Leider könnte er ihr keine Pfleger mehr geben, man bekäme ja sowieso kein gutes Personal. Natürlich zahlte er auch nur acht Euro fünfzig die Stunde, das war vielleicht das Problem. Aber die anderen zahlten auch nicht mehr, jedenfalls nicht viel.
Schade. Er hätte Rosalinde wirklich sehr gerne geholfen. Aber es war leider nicht möglich.
Im nächsten Frühling, hatte er gesagt. Im nächsten Frühling ist die Durststrecke vorbei. Dann wird es Erleichterungen geben, das verspreche ich Ihnen. Und bis dahin müssen wir alle ganz fest zusammenhalten – und wenn wir alle zusammenhalten – dann schaffen wir es auch! Nur durchhalten! Gemeinsam werden wir es schaffen, ich bin ganz, ganz sicher!
Rosalinde hatte dagesessen und seltsam bittersüß gelächelt. Das war doch wohl kein Zynismus? Brucks war leicht unsicher geworden, eine liebe Schwester durfte doch nicht zynisch sein.
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