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Die letzten Dinge - Roman

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Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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ordnete und vor sich hinstellte, verschwammen vor ihren Augen die Schriften der Medikamentenschachteln, die Schrift der Ärzte auf den Anweisungen und die Tropfen rannen ihr über die Finger. Und die Gedanken suchten sie heim, überfielen sie, bedrängten und notzüchtigten sie. Der eine Gedanke sagte:
    Die künstliche Nahrung von Bellheim fließt nicht richtig – und der nächste Gedanke sagte – Frau Wilhelm kriegt einen Decubitus – kein Decubitus auf unserer Station! -Und der nächste Gedanke sagte: Die Heimaufsicht, wenn die Heimaufsicht kommt – wie sieht es hier aus! Und der andere Gedanke sagte: Ich habe mich von Ivy wieder einwickeln lassen – hätte ihn rausschmeißen müssen – und der nächste Gedanke war: Abdul will nach Marokko; und ein anderer: Morgen Abend kommt die marokkanische Verwandschaft, brauchen wir noch Stühle?
    Und der nächste Gedanke war: Der Dienstplan für Dezember, ich muss den Dienstplan noch schreiben – und der nächste Gedanke lautete – die Bestellung für die Apotheke ist noch nicht gemacht – und der nächste: die Getränke gehen aus.
    Schließlich konnte Rosalinde die Gedanken nicht mehr unterscheiden und sie kreuzten sich und sie schossen umeinander. Jeder Gedanke stach sie wie eine Nadel, verletzte und ritzte ihre Seele, ein schmerzhaftes Kreuzworträtsel im Hirn, ausströmend in ihr Nervensystem, hinterließ es Spuren in ihrem ohnehin malträtierten Körper, jeder Gedanke verlief sich unbeantwortet in ihrem Wesen, das Denken machte sie schwächer und kränker, sie konnte die Töpfchen nicht mehr halten und sie verschüttete die Tropfen.
    Rosalinde wusste es genau. Wenn ihr Hirn nicht mehr funktionierte, war es aus.
    Einen Dienstplan für Dezember schreiben, die medizinische Versorgung gewährleisten, die Berge von Kadexen ausfüllen und kontrollieren – alles aus.
    Dann ging nichts mehr.
    Mit der Diabetes konnte sie arbeiten, mit Kopfschmerzen und mit Ohrensausen war sie immer zur Arbeit gekommen, sie arbeitete auch mit Niereninfekten und hohem Blutdruck, mit verstauchtem Bein und mit Rheuma und mit Gürtelrose.
    Aber wenn der Kopf nicht mehr ging? Dann brach die Station zusammen. Unweigerlich. Wenn der Kopf nicht mehr ging, dann konnten sie hier dicht machen. Rosalinde weinte. Sie musste sich setzen, ihre Hände klebten vom Saft der verschütteten Tropfen. Es brach zusammen. In ihr brach es zusammen, vom Kopf aus.
    Sie konnte nicht mehr gehen. Sie konnte nicht mehr stehen.
    Und Rosalie ging in die Knie.
    Fünf Minuten. Fünf Minuten blieb Rosalinde sitzen. Kämpfte. Lauschte. Verharrte. Dann stand sie wieder auf.
    Weitergehen. Es musste weitergehen. Es geht schon. Irgendwie. Es war noch immer gegangen. Es ging. Es musste gehen. Irgendwie.

Der Schreiner   hatte sich hineingestohlen. Frühmorgens, einfach so. Hatte die Bildzeitung mitgebracht und einen Blumenstrauß und die Schallplatte »My fair Lady«, die sie beim Umzug vergessen hatten. Er musste Klara alleine erwischen, ihr alleine womöglich Lebewohl sagen. Sie war ihm die Mutter gewesen, die er nie gehabt hatte.
    Im Zimmer war es noch duster, der Schreiner öffnete die Gardinen, lüftete ein wenig und sah zu Klara Eisbrenner hinüber. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Ein nasser Waschlappen lag noch auf dem Nachttisch. Offenbar hatte sie jemand gewaschen und den Lappen vergessen. Tatsächlich glänzte und duftete Frau Eisbrenner. Ihr Haar war frisch gekämmt und sie trug ein neues Nachthemd mit Schleifen. Das war noch in der Verpackung gewesen, als Brecht sie hierher gebracht hatte. Die kurzen, grauen Wimpern zitterten ein wenig über dem Augapfel, der Augapfel bewegte sich ganz fein. Klara lag, ganz Dame, auf dem Rücken und rührte sich nicht.
    Da ging die Tür auf und ein großer Pfleger kam hereingestürmt.
    Ei – guten Morgen! Sieh an, die Frau Eisbrenner hat schon Besuch!
    Er hatte Tee und Kaffee und einen Brei dabei.
    Na? Mal sehen, ob sie heute nicht doch etwas isst!
    Aber liegt sie denn nicht im Koma?
    Soweit ich weiß, hat sie heute Nacht die Augen aufgemacht, sagte Ivy. Er machte das Bettgitter herunter und drückte auf den elektrischen Knopf. Das Kopfteil ging höher. Und je höher Klara mit dem Oberkörper hinauffuhr, umso mehr kam sie wieder zu sich, und als sie oben war, schlug sie die Augen auf.
    Ei … Siegmund?, sagte sie.
    Das Herz vom Schreiner machte vor Freude einen Satz.
    Oh … Klara! Ja, Klara! Bist du wieder wach!
    Oh Siegmund, strahlte sie. Ich hab so herrlich geschlafen!
    Ivy

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