Die letzten Dinge - Roman
anstrengenden Arbeitstag.
Ja, welchen willst du denn jetzt? Also für hundertachtzig Euro … hier den Philips würde ich nehmen. Hat zwar keinen Flachbildschirm, aber für das Geld, … der ist stabil, hat 55 Zentimeter und größer braucht der doch nicht sein, oder? Der steht doch am Fußende von deinem Bett, oder?
Ja ja, das schon.
Wenn der größer ist, fallen dir die Augen aus dem Kopf. Aber weißt du was – mal ’ne andere Frage: Wann fährst du denn endlich mal nach Hause? Hm? Die Eltern warten die ganze Zeit und sie haben es eigentlich nicht verdient, dass du sie so ignorierst.
Lotta hatte ein überaus schlechtes Gewissen. Sie fürchtete sich vor dem Wiedersehen mit den Eltern. Sie fürchtete sich vor der Begegnung mit allem, an das sie nicht mehr denken wollte. Die nicht bezahlte Krankenkasse damals, der ungekündigte Arbeitsvertrag, den Doktor von der Rehaklinik und die Kollegen, die alle sauer waren, als sie einfach auf und davon nach England … die schrecklichen Wehklagen der Eltern … Wenigstens konnte sie jetzt vor sie hintreten und sagen: Seht ihr! Ich habe eine Wohnung und ich habe einen Job! Ganz alleine gesucht und gefunden.
Mama hat es immer gut mit dir gemeint. Sie haben sich beide krumm gelegt und du …
Ja ja, ich weiß schon. Von mir aus, dann mache ich es eben, damit Ruhe ist, also von mir aus dann nächsten Sonntag. Kannste ihnen ja sagen. Mensch, ich habe schon Bauchschmerzen, wenn ich nur daran denke.
Also hör mal, es ist in hohem Maße unfair, wenn du …
Ja ja, ich weiß schon. Schon gut. Musst du mir nicht noch andauernd sagen. Ich weiß ja, ich bin schuldig, schuldig, schuldig. Habe einfach keinen Bock, da hinzufahren und mir das alles wieder anzuhören.
Lotta! Du HAST Bockmist gebaut! Und du kannst dich vor den Folgen nicht drücken! Außerdem IST Mama nicht sauer und Papa schon gar nicht, sie wollen nur sehen, dass es dir gut geht. Also mach. Du musst auch mal Rücksichten nehmen. Du gibst dir so viel Mühe mit den Alten. Und an unsere Alten denkst du gar nicht.
Ja ja, Amen. Ich MACHE es ja! Wir nehmen jetzt den Philips und dann ist es gut. Kannst du den da rausnehmen aus dem Regal?
Sebastian bückte sich und zerrte einen Fernseher aus dem untersten Regal. Wuchtete ihn hoch und legte ihn auf den Einkaufswagen. Zweifelnd sah Lotta ihm hinterher, wie er sich Richtung Kasse bewegte. Die Alten. Und sie dachte schon wieder nicht an die eigenen Alten, sondern an die geliehenen von der Station. Frau Wissmar. Das schlechte Gewissen nagte an ihr.
Bleiben Sie da!, hatte sie gebeten.
Den ganzen Tag. Sobald jemand in ihr Zimmer gegangen war: Bleiben Sie da. Aber niemand war geblieben. Jeder hatte gesagt: ja ja, Frau Wissmar, ich verstehe, ich komme gleich wieder, bald, gleich, bald komme ich! Und hatten die Hand abgeschüttelt wie dürres Laub, die Hand, die nie was verlangt hatte, nur einmal und das war heute.
Sie, Lotta, hätte doch nach Feierabend noch ein wenig da bleiben können. Aber sie war mit Sebastian verabredet gewesen. Und der Fernseher hatte gelockt, der erste Fernsehabend in strahlend bunten Farben. Und sie selbst konnte nicht alleine den Apparat durch die U-Bahn schleppen, sie musste schon jemanden haben, der ihr half. Und trotzdem fühlte sie sich schlecht. Es war, als hörte sie Frau Wissmar rufen. Man hätte ja auch mal einen Seelsorger rufen können. Lotta suchte im Geldbeutel nach Bargeld. Sie hatte immer noch keine neue EC-Karte. Wenn sie mit dem Fernseher endlich nach Hause kam, würde sie sich ein wenig zu Frau Wissmar setzen. Bestimmt zwei Stunden. Wenn es nicht zu spät war.
Kevin hatte gesagt: Wenn ein Mensch stirbt, merkt man das daran, dass seine Beine kalt werden. Sie hatte heute Mittag unter die Bettdecke gegriffen und Frau Wissmars Schienbeine betastet. Tatsächlich kalt. Eiskalt. Lotta wollte ihr eine Wärmflasche machen, hatte aber keine gefunden und dann hatte sie das Essen abräumen müssen. Was, wenn Frau Wissmar nun von ihnen ging? Jetzt vielleicht? In diesem Augenblick? Dann musste Lotta sich immer vorwerfen, dass sie einen Menschen in Todesangst im Stich gelassen hatte. Frau Wissmar, die Personalchefin der Degussa. Frau Wissmar, die fünf Sprachen konnte. Frau Wissmar, die einen Nerzmantel besaß. Die immer so höflich war.
Kann ich sonst noch was für Sie tun?, hatte Lotta gestern gefragt.
Sie haben schon so viel für mich getan, hatte Frau Wissmar gesagt.
Lotta erinnerte sich so genau. Dann riss sie das Bargeld aus dem
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