Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
einverstanden. Sie wehrte sich nicht. Frau Eisbrenner war eine ehrwürdige Antiquitätenhändlerin aus gutem alten Hause. Was hatte sie nicht alles erlebt. Die Bombennächte, die zwei Kriege, den ersten Mann verloren, dann den Schorsch geheiratet. Den einzigen Jungen an Scharlach verloren. Was sollte man machen? Jeden Tag lief sie auf den Friedhof und jeden Tag kam der Weg ihr weiter vor. Und manchmal sagten die Leute, sie sei ja heute schon zweimal auf dem Friedhof gewesen, aber Klara Eisbrenner konnte sich nicht so recht erinnern. Doch wenn der Weg zum Friedhof ihr so lange vorkam, dann dachte sie manchmal, das könnte sie doch einfacher haben. Wenn sie selber endlich heimgegangen war, dorthin, wo ihre Lieben schon so lange auf sie warteten. Es würde einfacher sein, sie musste nicht mehr so viel laufen und sich nicht mehr so viel bücken, um die Blumen auf die Gräber zu pflanzen. Wenn sie endlich, endlich heimgegangen war, dann blühten die Blumen von selber, dort blühten die Blumen in allen Farben, das ganze Jahr und vielleicht sogar noch in der Nacht.
    Komm, sagte Siegmund Brecht. – Setz dich – und morgen kümmern wir uns um alles andere.
    Ist recht, Siegmund, ist recht. Du bist ein so guter Junge.
    Und Siegmund putzte sich lautstark die Nase.

Lotta streichelte   die schöne Strickjacke aus der Kleiderkammer. Sie hatte ihr Glück gebracht. Die schöne, helle Strickjacke mit den aufgehäkelten Blumen hatte sie sanftmütig wirken lassen und ergeben, ihre Motive irgendwie besser erscheinen lassen. Diese Strickjacke. Sie musste sie zurückbringen.
    Lotta ging die Stufen hinauf. Das Treppenhaus war schwach beleuchtet und kaum benutzt. Ein Treppenhaus, das nur dazu diente, sie in ihre Dachkammer oder in die Kleiderkammer zu bringen. Lotta war sehr stolz darauf, einen Schlüssel zu diesem Trakt zu besitzen, es gab ihr eine gewisse Macht über einen ganzen Gebäudeteil, zu dem der normale Besucher keinen Zutritt hatte. Eine verbotene Tür. Ganz oben führte die Treppe sogar auf das Dach hinauf, eine kleine, geheime Ecke im Dach, die nur ihr gehörte und Gianna, um ab und zu eine Zigarette zu rauchen. Lotta war begeistert über dieses kleine Geheimnis. Hier konnte sie später noch einmal sitzen und ihren Gedanken nachhängen. Gedanken voller Frieden und Begeisterung.
    Lotta hatte sich versöhnt! Lotta hatte Maracujatorte gegessen! Lotta hatte dem Vater den Aschenbecher aus Manchester geschenkt. Sie hatte die Katze gestreichelt und den neuen Schirmständer bewundert. Es war vollbracht. Das schlimmste denkbare Ereignis! Keiner hatte geschimpft. Keiner hatte ein böses Wort verloren, außer dass natürlich ein Wort kunstvoll ausgespart wurde: das Wort BRIAN. Das konnten die Eltern nicht sagen, schon allein aus sprachlichen Gründen. Aber da auch Lotta kein größeres Interesse mehr daran hatte, den Namen auszusprechen, war das kein großes Versäumnis gewesen. Es verrechnete sich praktisch damit, dass die Eltern sich auf der anderen Seite gezwungen hatten, ein Wort nicht zu benutzen, das sie unheimlich gern gesagt hätten, nämlich das Wort: Ausbildung.
    Mit diesem verbalen Waffenstillstand konnte Lotta gut leben. Weil die Eltern aber nicht »Ausbildung« gesagt hatten, fühlte sie sich plötzlich dazu gezwungen, diesbezüglich etwas zu sagen, und so hörte sie sich auf einmal behaupten, sie erlerne das Handwerk der Krankenpflege. Sehr schön, sehr aufopfernd, sehr erfüllend. Von Herrn Wickerts Beinen hatte sie nichts gesagt.
    Mit der Jacke streifte sie wieder ihre Heimat ab, den guten Ruf, den sie am Nachmittag wiedererlangt hatte, die heile Welt vom Land. Geborgenheit der Kindheit … Lotta wurde sentimental. Hielt die Jacke an einem Ärmel in die Kleiderkammer hinein und folgte dem Ärmel schließlich. Reumütig legte sie sie auf dem Bügeltisch zusammen und wollte sie eben in den offenen Schrank legen, als sie unter der Achselhöhle einen Lichtstreif bemerkte, den weißen Schatten. Hier hatte sie immer einen weißen Schatten. Verstohlen blickte sie unter ihren Arm … der Schatten verstärkte sich und wurde heller. Schließlich stahl er sich hinter ihrem Rücken hervor und schwebte an ihrer Seite. Lotta drehte sich um und schrie gellend auf.
    Eiskalter Streif. Lotta ließ die Jacke fallen.
    Was ist DAS denn?, schob sie zitternd ihrem Schrei hinterher.
    Lotta konnte es nicht fassen. Das war nun keine optische Täuschung mehr, kein Lichtreflex, keine Rauchentwicklung – das war etwas, das da nicht hingehörte,

Weitere Kostenlose Bücher