Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
Vom Netzwerk:
Abschiedsrede grob unterbrochen. Er erhielt einen heftigen Stoß in den Rücken, sodass er mit der Schlinge um den Hals stürzte und sich auf der Stelle das Genick brach. Doch der Stoß war so ungeschickt und brutal zugleich erfolgt, dass er wie das Pendel einer Uhr hin und her zu schwingen begann. Gesunder Menschenverstand hätte befohlen, jemand auf den Scheiterhaufen klettern zu lassen, um das Pendel des bereits toten Gehenkten anzuhalten; stattdessen sprang der mit dem Entfachen des Scheiterhaufens beauftragte Erlösermönch in höchstem Eifer vor und steckte ihn mit der Fackel in Brand. Das Holz war gut abgelagert und trocken und außerdem in Öl gelagert worden, sodass es sofort prächtig in Flammen aufging. Leider schwang die Leiche immer noch über dem Feuer hin und her, und wie als Werk des Teufels setzte urplötzlich ein starker Wind ein, der die Flammen von Van Owens Körper wegblies. Die Menge stöhnte voller Furcht auf. »Ein Wunder! Ein Wunder!«
    Während die Menge entsetzt und fasziniert zugleich mit offenen Mündern die Szene verfolgte, züngelten die Flammen immer höher und fraßen sich durch die Stricke, mit denen Van Owens Hände gefesselt waren. Und so gewaltig war die Hitze, dass sie seinen rechten Arm langsam anhob, bis die Hand anscheinend anklagend auf die Menge wies. Das Amt für die Verbreitung des Glaubens ließ später verlautbaren, es habe sich dabei keineswegs um einen Fluch Van Owens gegen die Gläubigen gehandelt, weil sie den Tod eines Unschuldigen herbeigewünscht hätten, sondern vielmehr um einen letzten Segen als Zeichen seiner Reue.
    Inzwischen hatten die Erlösermönche auf der Ehrentribüne die Nasen von der ganzen Sache gründlich voll; manche brachten sogar genug Anstand auf, sich für das zu schämen, was sie getan hatten. Aber es war noch nicht vorbei. Die Arrabiaten hatten die Aufgabe, die sterblichen Überreste von Ketzern zu erniedrigen und zu verhöhnen; pflichtschuldigst marschierten sie vor dem Galgen auf, wobei sie einen schweren Sack mit den Steinen der Reue und Zerknirschung mit sich schleppten. Sie stellten sich in einer Reihe vor dem inzwischen stark verkohlten Körper auf und machten sich unverzüglich daran, ihn mit den faustgroßen Steinen zu bewerfen, sodass von Zeit zu Zeit mehr oder weniger große Stücke des von den Flammen verzehrten Körpers ins Feuer fielen. »Es regneten«, schrieb der Historiker Solerine, »Blut und Eingeweide hinab.«
    Nur wenige Menschen außerhalb der Herrschaftsbereiche des Erlöserordens oder der Antagonisten haben jemals die Verbrennung eines lebenden Menschen gesehen. Die verbreitete Vorstellung der Bewohner der Vier Quadranten von einem Scheiterhaufen leitet sich von den Winterverbrennungen ab, bei denen auf riesigen Reisig- und Holzhaufen Strohpuppen verbrannt werden, die den Winter symbolisieren sollen. Die Wirklichkeit der echten Menschenverbrennung ist jedoch sehr viel drastischer und somit auch sehr viel furchtbarer. Man stelle sich vor, ein gut situierter Kaufmann entzündete ein Gartenfeuer. Und nun stelle man sich ferner vor, ein ausgewachsenes Schwein würde auf diesem doch recht kleinen Feuer bei lebendigem Leibe verbrannt.
    Erst mit dieser Vorstellung vor Augen wird man verstehen, warum hier die Viertelstunde nicht beschrieben werden soll, die es dauerte, bis die Maid vom Amselfeld ihr Leben aushauchte– die Schreie, die so schrill und durchdringend waren, dass man kaum zu glauben vermochte, dass sie einer menschlichen Kehle entstammten, der Gestank und, guter Gott, wie lange es dauerte. Und während der ganzen Zeit wandte Cale nicht den Blick ab, nicht ein einziges Mal. Doch irgendwann musste auch das furchtbarste Martyrium zu Ende gehen.
    »Wie war es?«, fragte Vague Henri.
    »Wenn du das wissen wolltest, hättest du mitkommen sollen.«
    »Sag mir, dass es schnell ging.«
    »Es ging alles andere als schnell.«
    »Es war nicht deine Schuld.«
    »Aber du gibst mir trotzdem die Schuld.«
    »Nein.«
    »Doch. Du glaubst, dass ich meine Macht hätte einsetzen und sie irgendwie an einen sicheren Ort hätte zaubern müssen– wo immer das auch sein mochte. Wenn ich einen sicheren Ort wüsste, würde ich selbst dorthin fliehen. Vielleicht glaubst du auch, ich hätte von der Tribüne der Gesegneten springen und ihre Fesseln durchschneiden und meine Flügel entfalten und sie davontragen müssen.«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Ich habe zweimal in meinem Leben unschuldige Jungfrauen gerettet. Schau doch nur, wie

Weitere Kostenlose Bücher