Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
vorsichtiger agierten, denn mit jeder zusätzlichen Stunde entfernte sich der Flüchtlingszug eine Stunde weiter von der Katastrophe. Sie glaubten, den mönchischen Superkriegern so große Verluste zugefügt zu haben, dass diese nur noch kriechend vorwärtskamen. So war es möglicherweise durchaus verständlich, dass manche von ihnen an Kleists Schilderung der kriegerischen Fähigkeiten der Mönche zu zweifeln begannen, und wenn dem so war, auch an seiner Einschätzung der Gefahren, die die Klephts zu so großen Opfern gezwungen hatte. Andere jedoch klammerten sich noch an die Vorstellung, dass die Erlösermönche wegen ihrer militärisch exzellenten Fähigkeiten wahre Übermenschen seien– und das ließ sie, wer sollte es ihnen verdenken, mit noch größerem Stolz auf ihre eigenen mutigen Taten blicken. Und ihr Mut war beträchtlich. Die Klephts starben in für ihre Verhältnisse riesiger Zahl. Schließlich waren sie ohnehin nicht sehr zahlreich, und keiner drückte sich vor der Aufgabe. Doch nun, da sie der Gegenseite weniger Verluste zufügten, erlitten auch sie weniger Verluste.
Da Kleist von Anfang an das Schlimmste befürchtet hatte, mag man ihm vorwerfen, dass er angesichts des Mangels an Aggressivität auf Seiten seiner früheren Meister nicht misstrauisch wurde. Tatsächlich dachte er zwar kurz darüber nach, aber die Hoffnung stellt sich nun einmal jedem nüchternen Urteil als großes Hindernis in den Weg. Er wusste nichts über den Verrat durch den Burggrafen Selo und hatte kaum jemals mit ihm gesprochen. Niemand hatte ihn auf den Pfad über den Mount Simon hingewiesen– solche Pfade gab es viele, und sie alle waren ohne Führer höchst gefährlich. Hinzu kam, dass er sich bezüglich seiner Treffsicherheit selbst übertraf, denn wenn es um die Priester ging, hatte er keinerlei Hemmungen. Kaum bewegte sich etwas, schon schoss er seinen Pfeil ab, und zu seiner eigenen Zufriedenheit und der lärmenden Freude der Klephts traf er sein Ziel in den meisten Fällen. Erlösermönch Santos war immer wieder gezwungen, sich hinter die Felsen zurückzuziehen und sich immer noch grausamere Strafen für den kleinen Scheißer auszumalen, der ihm und seinen Männern so viel Leid zufügte. Außerdem hatte Kleist noch nie in einer Schlacht gekämpft, von der beim Silbury Hill abgesehen, und diese Erfahrung nützte ihm hier nicht viel. Deshalb wunderte er sich zwar darüber, dass die Erlöser seine Erfolge verhältnismäßig gelassen hinnahmen, aber da er keine konkreten Informationen hatte, musste er die Sache eben akzeptieren. Und so kämpften die beiden Seiten weiterhin in den Schluchten und fügten sich relativ geringe Verluste zu, während zweihundertfünfzig Erlöser über den eiskalten Gipfel des Mount Simon marschierten und neunhundert Frauen und Kinder verfolgten, die inzwischen auf die Mulberry Downs hinausgelangt waren und dort schneller vorwärtskamen, als man eigentlich hatte erwarten können.
Am späten Nachmittag des zweiten Tages des langsamen Rückzugs der Klephts durch die Schluchten dämmerte es Kleist allmählich, dass es falsch war, die Erlöser zu töten. Es schien doch viel sinnvoller, sie nur zu verwunden. Denn so gleichgültig sie auch dem Leiden anderer Menschen gegenüberstanden, nahmen sie sich das eigene Leiden und das ihrer Mitbrüder sehr viel mehr zu Herzen, und das galt auf allen Ebenen: So reagierten sie empfindlich bis zum Wahnsinn auf Kritik jeglicher Art und sahen im geringsten Widerstand gegen ihre Handlungsfreiheit, so brutal sie diese auch ausüben mochten, einen Beweis für eine unerträgliche Hetzjagd. In einem hitzigen Gefecht waren sie bereit, sich und ihre Mitbrüder ohne das geringste Zögern in großer Zahl zu opfern, aber danach behandelten sie ihre Verwundeten mit einer Hingabe, die geradezu rührend hätte sein können, wenn sie nicht gleichzeitig die verwundeten Feinde mit größter Brutalität abgeschlachtet hätten. Die Erlöser waren allen in puncto Wundbehandlung überlegen und auch immer bereit, neue Formen der Heilbehandlung zu erproben, eine Haltung, die sie auf keinem anderen Wissensgebiet zu Tage legten. Von da an schoss Kleist, wann immer es möglich war, die Feinde nur noch in ein Bein oder in den Bauch, weil er wusste, dass sie in diesem langsamen Krieg aus dem Hinterhalt größte Gewissensbisse bekommen würden, wenn sie ihren Vormarsch nicht unterbrachen, um die Verwundeten zu behandeln. Die Folge war eine befriedigende Zunahme der Wehklagen und des
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