Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
!«, woraufhin der Chorus mit ungewöhnlicher Deutlichkeit antwortete: » HAT EIN MUTTERMAL GANZ OBEN AM INNENSCHENKEL !« Davon schien sich nun einer der Molosser höchstpersönlich angesprochen zu fühlen, denn er brüllte außer sich vor Wut über diese Beleidigung, die offenbar eine präzise Beschreibung des Innenschenkels seiner unglücklichen Frau darstellte, und rannte in geradezu selbstmörderischer Absicht auf die Front der Klephts zu. Glücklicherweise stolperte er in seiner hysterischen Eile über einen Stein, und bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, wurde er von einem halben Dutzend seiner Stammesbrüder und Verwandten gepackt und, obwohl er sich heftig wehrte, hinter die eigenen Frontlinien zurückgeschleppt.
Danach dauerte es gute zehn Minuten, bis sich wieder so etwas wie Ordnung einstellte. Kleist wandte sich lachend an Daisy.
»Meinst du nicht, dass das ein Fehler ist, sie dermaßen zur Weißglut zu bringen?«
Sie zuckte nur die Schultern. In diesem Moment begann der Angriff– die Molosser rückten in Reih und Glied vor, beeindruckend diszipliniert, als verstünden sie etwas vom Kriegsgeschäft. Kleist allerdings ahnte eine ziemlich blutige Metzelei voraus. Immer noch regneten die Beleidigungen auf die Angreifer hinunter wie Pfeile vom Silbury Hill. Und dann stürmten sie in einem endgültigen, wutentbrannten Angriff nach vorn. Die Klephts antworteten mit einem nicht besonders eindrucksvollen und äußerst ungenau gezielten Pfeilhagel– und dann drehten sie sich um und rannten davon. Daisy hüpfte vor Vergnügen auf und ab und klatschte begeistert Beifall, als die Klephts in das Tal zurückrasten und in den endlos verschlungenen Gängen, Spalten und Klüften verschwanden. Die große Mauer hielt die Molosser ein paar Minuten lang auf, vor allem, als sie entdeckten, dass die Rückseite mit Fallen gespickt war– scharfe Bambussplitter, die man in kleine Nischen gesteckt hatte und die sich tief in den Fuß bohrten, wenn man beim Hinabklettern in den Nischen Halt suchte. In anderen Nischen hatten die Klephts Giftschlangen versteckt. Und bevor sie den Rückzug antraten, hatten sie tausende Spinnen freigelassen, die nun über die gesamte Mauer krochen. Sie waren zwar nicht giftig, aber für die Molosser waren Spinnen nun mal unrein und durften nicht berührt oder gar gegessen werden. Bis sich die Angreifer abermals gesammelt hatten und die Verfolgung aufnehmen konnten, waren die Klephts längst aus dem Blickfeld verschwunden, von ein paar Halbwüchsigen abgesehen, die auf den Felskämmen standen und weitere Schmähungen herabbrüllten. Dort blieben sie aber nur, bis sich ein paar erboste Molosser an den Aufstieg machten. Diesen wurde die Verfolgung allerdings durch niedergehendes Geröll erschwert, das plötzlich von den Kalkfelsen durch die schmalen Felsspalten herabrumpelte. Sie brachen die Verfolgung ab, als ihnen klar wurde, dass die Sache nutzlos war und für sie außerdem tödlich enden würde.
»Komm schon«, sagte Daisy und zerrte Kleist von der Felsenkante zurück. Um nicht den Spähtrupps der Molosser in die Hände zu fallen, führte sie ihn auf Umwegen ins Dorf zurück. Im Laufe des Nachmittags kehrten die Klephtkrieger aus der Großen Nichtschlacht zurück, sehr zufrieden mit sich selbst. Überschwänglich beschrieben sie, wie sie mutige Taten vermieden und einen vollkommenen Mangel an Tapferkeit bewiesen hätten. Für sie war es ein Riesenerfolg, dass sie dem Ansturm der Feinde nicht mal bis zum ersten, geschweige denn bis zum letzten Mann standgehalten hätten.
Der Nichtsieg wurde tagelang gefeiert. Kriegserlebnisse wurden erzählt, die offenbar durch häufiges Erzählen immer weiter aufgebläht worden waren– mit wie viel List und Tücke der Erzähler die Katastrophe über seine Feinde brachte, ohne selbst das geringste Risiko einzugehen oder auch nur die geringste Tapferkeit zu beweisen. Die Krieger lieferten sich geradezu einen Wettbewerb um die unglaublichsten Geschichten. Etwa wie sie, von völlig sicheren Positionen auf den Felsen aus und über unüberbrückbare Klüfte hinweg die aberwitzig blöden Molosser dazu gebracht hätten, die Namen ihrer geliebten Mütter, Frauen oder Töchter preiszugeben, sodass die Klephts in der Lage waren, deren sexuelle Unbescholtenheit auf immer groteskere Weise in den Schmutz zu ziehen. Kleist, der diesen Schilderungen höchst amüsiert folgte, wurde allmählich klar, dass für die Klephts der ultimative Sieg über einen Feind nicht
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