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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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Zahl von Menschen umzubringen. Zwar dauerte sein Kummer nicht sehr lange, aber er war danach auch nicht mehr derselbe. Er wusste, dass es eine schlimme Angelegenheit war, einen Menschen umzubringen, zumal er selbst den starken Wunsch verspürte, nicht umgebracht zu werden. Selbst in der Ordensburg hatte er hart daran arbeiten müssen, am Leben zu bleiben, und die Burg war schließlich ein Ort, wie ihm inzwischen klar geworden war, an dem es sich nicht lohnte zu leben. Er wusste also, dass er sich schlechter fühlen sollte, als es tatsächlich der Fall war– auch wenn er tatsächlich ein paar Tage lang sehr bedrückt war, so viele Menschen getötet zu haben. Aber etwas, vielleicht das Gewissen, über das die Erlösermönche so oft gequasselt, aber nie selbst gezeigt hatten, nagte in ihm. Es war nicht stark genug, um als Reue oder Schuld gelten zu können, trotzdem reichte es aus, um ihm bewusst zu machen, dass ihm die Erlösermönche ihr Siegel aufgedrückt hatten, zwar keines, das sie beabsichtigt hatten, aber doch eins, das nie mehr verschwinden würde. Manchmal fragte er sich, wie er wohl geworden wäre, wenn er nie in die Ordensburg gekommen wäre. Vollkommen anders, so viel war sicher. Aber was er getan hatte, ließ sich nicht mehr ungeschehen machen, also gab es keinen Grund, sich darüber zu sorgen. Und so hörte er nach einer Weile auch auf, darüber zu grübeln.

FÜNFZEHNTES KAPITEL
     

    D
ie Straßenkinder von Memphis sangen immer ein Kinderlied über die Lakonier, zu dem sie zugleich auch hüpften und tanzten.
Die Ephoren von Lakonia
Sind Gerippe nur, doch knochiger.
Schwarz ihre Supp’, in ihrer Sucht
Werfen sie Babys in die Schlucht.
EINS ! ZWEI ! DREI ! VIER !
Sie töten Sklaven nur zum Spaß,
Töten sie alle ohne Maß.
Sie tragen Särge ständig rum,
Und schlafen drin und drum herum.
FÜNF ! SECHS ! SIEBEN ! ACHT !
Sie schlagen Kinder mit dem Stock,
Bis dass sie blau sind und im Schock.
Und wenn sie schrei’n und gar noch klagen,
Dann geh’n sie ihnen an den Kragen.
NEUN ! ZEHN ! ELF ! ZWÖLF !
    Zu dem Lied gibt es noch eine zusätzliche Strophe; allerdings ist es streng untersagt, sie in Gegenwart von Erwachsenen oder Paukern zu singen:
Sie nehmen die Kinder nicht nur zum Prügeln,
Sondern tun mit ihnen ihre Lüste befriedigen.
Was sie mit ihnen machen, ist furchtbar und harsch:
Sie stecken ihnen ihr Ding in den… A-A-Arsch.
    Während die Strophe fast nur geflüstert werden darf, werden die letzten drei Silben so laut wie möglich gebrüllt.
    Cale legte sich nieder und las den Bericht, den Bosco ihm geschickt hatte. Er las ihn mit der verächtlichen Einbildung, die herausragende Personen empfinden, wenn es um Menschen ging, denen man nachsagte, noch besser als sie selbst zu sein. Aber diese Empfindung wich bald einer schlichten Faszination mit den besonderen Einzelheiten, die hier beschrieben wurden.
    Die Bewunderer des Geisteslebens und der Lebensweise der Lakonier– auch Lakoniaphile bezeichnet– würden die obigen Knittelverse wohl als Lästereien von Gassenkindern abtun. Mit Ausnahme der Zeile über die Särge– die eine rein kindische Erfindung zu sein scheint– werden die übrigen Anschuldigungen in dem Lied nachdrücklich selbst von Leuten bestätigt, die sich von dieser seltsamsten aller Gesellschaften nicht so faszinieren ließen, wie dies bei den Lakoniaphilen der Fall war. Die Lakonier, deren Land eher einer Kaserne als einer Nation gleicht, hielten sich für »das freieste aller Völker der Erde«, weil sie von niemandem beherrscht wurden und keinerlei Produkte hervorbrachten. Sie bildeten einen Staat, in dem es nur eine Fertigkeit gab, die alle ausschließlich verrichteten: Kriegsführung. Gesunde Jungen, die im lakonischen Volk geboren wurden, gehörten dem Staat. Im Alter von fünf Jahren wurden sie ihren Familien– wenn man überhaupt von familienähnlichen Verbindungen sprechen konnte– weggenommen und ausschließlich für einen einzigen Lebenszweck ausgebildet, »töten oder sterben«, und diese Tätigkeit übten sie aus, bis sie ungefähr sechzig Jahre alt wurden– ein Alter, das allerdings nur die wenigsten erreichten. Kamen die Knaben nicht gesund zur Welt, wurden sie, wie der Gassenhauer völlig korrekt erklärte, in eine Schlucht geworfen, die sie Entsorgungsgrube nannten. Hätten die Lakonier eine Dichtung hervorgebracht, was nicht der Fall war, hätte man in dieser Lyrik wohl kaum einen Hinweis auf die Freuden oder Schmerzen des Alterns gefunden. Denn die

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