Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork

Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork

Titel: Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana de Mari
Vom Netzwerk:
oder der Wöchnerinnen, wenn sie von der Geburt noch geschwächt sind. Nehmt auch Ihr Euch in Acht heut Nacht. Es heißt, in der Hauptstadt, in Daligar, sei ein schrecklicher Kind-Elf aufgetaucht, man weiß nicht, woher, und er soll sämtliche Hühner, Enten, Finken umgebracht haben, sogar die Papageien in der Gärten.«
     
    Als die drei Gevatterinnen unter Ermahnungen zur Vorsicht und guten Genesungswünschen gegangen waren, war es Nacht, und in dem Häuschen herrschte Dunkel. Der Vater legte sich neben die Mutter, Rankstrail aber lag mit offenen Augen da. Schon als Kind brauchte er wenig Schlaf, auf jeden Fall viel weniger als seine Eltern. Als er sicher war, dass der Schlaf alle eingehüllt hatte, die barmherzige Decke des Vergessens über allen Kummer breitend, stand er auf und trat im Dunkel ans Lager der Schwester, er kniete davor nieder und verharrte reglos so, lauschte ihrem Atem. Ein wenig schief, wie eine angeschlagene Orange, trat der Mond hinter den Wolken hervor und schien durch das runde Fenster herein, goss sein Licht über das kleine Mädchen. Rankstrail streckte eine Hand aus und berührte das winzige, zur Faust geballte Händchen. Sie schlief weiter, öffnete aber doch die Faust und schloss die Fingerchen fest um den Daumen des Bruders zusammen. Rankstrail spürte die feuchte, warme Handfläche und eine für eine so kleine Hand erstaunliche Kraft. Auch wenn ihm klar war, dass das im Schlaf geschah, ohne jede bewusste Absicht, gefiel ihm die Geste. Er harrte weiter dort aus. Es gab da eine Art undurchdringliche Melancholie in ihm, die war seit jeher vorhanden, aber sie wurde schwächer, wenn Mama lachte, oder in einem Augenblick wie diesem, mit der Hand des Schwesterchens um seinen Daumen.
    Ihr Geruch rührte ihn.
    Das Licht des Mondes fiel hell auf sie. Ihr kleines Gesicht, geschwollen und zerknittert, sah nicht viel anders aus als am ersten Tag, vielleicht etwas weniger rot. Diesmal allerdings fand Rankstrail, dass der Vater recht hatte. Die Sache mit dem Storch war nach wie vor unklar, aber dass seine Schwester schön war, das stimmte. Sie war aus dem Bauch derselben Mutter gekommen, die auch ihn getragen hatte. Sie würde dieselben Menschen Vater und Mutter nennen wie er.
    Sie war seine Schwester.
    Schwester.
    Schwesterchen.
    Er wiederholte sich das Wort im Kopf wie eine Melodie. Wörter waren nicht seine Stärke, das wusste er, aber er spürte, dass einige davon eine merkwürdige Magie besaßen. Schwester war eins davon. Auch Mutter, Vater und Sohn konnten magische Wörter sein.
    Rankstrail schwor sich, dass er den gesamten Honig von sämtlichen Bienen in der Gegend plündern würde, wenn nötig bis hinüber zu den Dunklen Bergen. Wenn nötig, war er bereit zu töten. Solange er am Leben war, würde niemand Fiamma wehtun dürfen. Niemals, solange er am Leben war, würde seine Schwester Hunger leiden. Sollte sich jemand unterstehen und behaupten, seine Schwester sei hässlich, sollte er das besser nicht in seiner Gegenwart tun.
    Rankstrail wagte sich nicht zu rühren, er wollte nicht auf die feuchte Wärme um seinen Daumen verzichten, diesen Griff, mit dem ein Pakt fürs Leben besiegelt wurde. Reglos blieb er neben Fiamma knien, bis sich ihr Gesichtchen verzog und er bemerkte, dass es der Hunger war, der sie aufweckte. Die Morgendämmerung war da. Er wartete nicht ab, bis sie zu weinen begann. Er nahm seinen neuen Quersack und schlüpfte hinaus in die Reisfelder und begann einen neuen Tag als Dieb.
    Im Alter von etwa fünf oder sechs Jahren – um das mit Bestimmtheit sagen zu können, hätte man Kalender lesen müssen, ebenso undenkbar, wie einen zu besitzen – wurde Rankstrail zum besten Honigdieb im Äußeren Bezirk, und das war ein Glück, denn nach Fiammas Geburt wurde Mama krank, sie bekam Husten und Honig, aufgelöst in einem Rosmarinsud, vertrieb ihn.
    Es war nicht leicht. So viel Glück wie beim ersten Mal hatte er selten. Die Bienen kamen nicht bis in die Reisfelder, sie lebten in den Wäldern und auf den wenigen Weiden der Umgebung. Man musste tagelang gehen, um sie zu finden, und ebenso lang, um ihnen zu folgen und ihren Wohnsitz ausfindig zu machen, eine Art Schloss in Form eines großen Pinienzapfens, immer in der Höhe angebracht und umsummt von bewaffneten und geflügelten Verteidigern, die man mit dem rechten Maß an Mut und Geduld attackieren musste, sonst war es um einen geschehen. Die Waben waren leicht zu verstecken, und die Wachposten an den Stadttoren waren viel zu sehr

Weitere Kostenlose Bücher