Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
sodass auch nicht das leiseste Wimmern zu vernehmen war. Lang ließ sie ihre Finger durch Erbrows Locken gleiten, durch das glatte, feine Haar Arduins und über das noch kahle Köpfchen des Jüngsten, der den Namen des Vaters trug, das Kind, das im Reich des Toten gewesen und wiedergekehrt war.
Im Morgengrauen schlief endlich auch sie ein. Da setzte das leise Geräusch des Regens ein. Robi schlief und schlief und träumte und endlich löste sich ihre Müdigkeit wie Staub im Wasser.
Sie sah einen dunklen und sehr engen Ort, geschlossen wie ein Kreis, und sie begriff, dass es das Innere eines Quersacks war.
Da war ein Obstkern, ein Brief, der nicht mehr zu entziffern war, die geschnitzte Holzpuppe und das kleine Boot, die ihr gehört hatten und nun den Kindern einer Frau gehören würden, die sie einst verflucht hatte, und sie begriff, dass die Gabe den Fluch gelöst hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass an dem alten Holzspielzeug weiße und karmesinrote Blütenblätter klebten, die sich lösten und auf den Grund des Quersacks glitten, wo sie sich mit anderen, älteren und trockenen Blütenblättern in denselben Farben vermischten, wie sich in einer lang ersehnten Umarmung die Glieder umschlingen. Das Blut des letzten Drachen und das des letzten Elfen waren in Berührung gekommen. Der dunkle, geschlossene Kreis öffnete sich dem Licht, denn das war nicht nur das Innere eines Quersacks, sondern der düstere Bezirk des Todes selbst. Sie sah die Vergangenheit, die sich mit einer Zukunft verknüpfte, in der jede Qual aufgehoben war.
Sie sah die Neumondhügel voller Mohnblumen und blühendem Ginster, darüber sah sie die weiten Flügel des Drachen, zwischen seinen großen Flügeln sah sie die Krieger, die ihn getötet hatten und denen verziehen worden war, weil das nicht geschehen war, um zu zerstören, sondern um zu retten. Diesen Männern verdankte ihre Tochter, die den Namen des Drachen trug, ihr Leben. Sie begriff, dass die Menschen und der Drache sich darüber, dass sie keine Nachkommenschaft hatten zeugen können, hinwegtrösteten mit den Namen der Kinder, die sie gerettet hatten. Sie sah Jastrin, der im Wind lief, sie sah Yorshs Lächeln und erinnerte sich an ihn. Sie erkannte den großen, schweigsamen Mann. Der erste Soldat, der unter seinem Kommando gefallen war, und hinter ihm sah sie all jene, die ihm nachgefolgt waren. Sie sah eine sehr lange gedeckte Tafel, deren Tischtuch abwechselnd aus feinem Leinen und aus grobem Baumwollstoff und Jute war, und sie erkannte den Hofmeister des Königlichen Hauses, beflissen und munter bei seinen Vorbereitungen, auf dass nie wieder irgendjemand Hunger leiden müsse; ein unendliches Bankett, wo der feinste gefüllte Fasan neben fetten Schweinswürsten mit Bohnen stand, und in Honig karamellisierte Fledermäuse neben mit Pinienkernen gefüllten Ratten, die den Hunger der Belagerten gestillt hatten.
Eingehüllt in den leichten Morgennebel, sah sie ihren Vater und ihre Mutter … Weiter hinten, in der Ferne, sah sie die Schatten der Orks. Zuletzt sah sie den Schatten Argniòlos, der auch einmal Kind gewesen war und bestimmt auch eine Geschichte zu erzählen hatte.
Millionen und Abermillionen Tropfen entließ der Regen aus den tief hängenden Wolken, die schon seit Tagen über der Stadt gelastet hatten, und sie fielen auf Daligar, füllten die Brunnen, kühlten die Hitze, wuschen den Staub und das Blut ab, das Blut Jastrins, das Lisentrails, das Blut all jener, deren Blut vergossen worden war, an allen Stellen, wo Blut geflossen war, sodass als Erinnerung an die Toten nur die reine Wehmut der Erinnerung an sie blieb. Die Tropfen traten zusammen zu kleinen Bächen, winzigen Rinnsalen, die von den Dächern und über die Treppen hinunterliefen, sie spülten das Blut Argniòlos hinweg und das der Orks, wuschen die Pfähle rein, auf denen die abgehackten Köpfe gesteckt hatten und die von nun an als Kletterhilfe für Buschbohnen dienen sollten.
Sie wuschen das Blut hinweg, das Jahr um Jahr vergossen worden war durch die Ungerechtigkeit der Henkersknechte, und sie wuschen die Schande derer hinweg, die zugesehen und nichts unternommen hatten.
Der Regen vermischte sich mit der Erde, damit das Gras wieder grün werden konnte, die Rebschößlinge sich stolz in die frische Luft recken konnten, der Kohl sich mit seinen fast blauen Blättern entfalten. Die Haut der Tomaten, die in der Hitze verschrumpelt war, straffte sich.
Kapitel 27
Rankstrail, der junge Hauptmann von Daligar,
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