Die letzten ihrer Art
Man versucht unweigerlich, den Gedankengängen eines Tieres zu folgen, und muß, wenn es sich dabei um ein drei Tonnen schweres Nashorn handelt, dessen Nasengänge mehr Platz einnehmen als sein Gehirn, ebenso unweigerlich scheitern.
Die Welt der Gerüche ist dem modernen Menschen so gut wie verschlossen. Nicht, daß wir etwa keinen Geruchssinn hätten – wir schnüffeln an unserem Essen oder unserem Wein, wir riechen gelegentlich eine Blume und merken gewöhnlich, wenn irgendwo Gas austritt, aber normalerweise ist alles irgendwie verschwommen. Wenn wir lesen, daß Napoleon in einem Brief an Josephine »Wasch dich nicht – ich komme heim« schrieb, finden wir das amüsant und tun es gern als leicht schrulliges Verhalten ab. Wir sind so sehr daran gewöhnt, das Sehen, dicht gefolgt vom Hören, für die beherrschende Wahrnehmungsart zu halten, daß wir uns eine Welt, die sich vor allem mit Hilfe des Geruchssinns erschließen läßt, nicht vorstellen können (wobei sich das Wort »vorstellen« eigentlich schon selbst verrät). Es ist eine Welt, die sich von unseren geistigen Zentraleinheiten nicht erhellen läßt – oder zumindest, mangels Übung, nicht mehr erhellen läßt. Für den Großteil der Tiere aber ist der Geruchssinn der wichtigste Sinn. Er verrät ihnen, was eßbar ist und was nicht (während wir uns nach dem Verpackungstext und dem Verfalldatum richten). Er führt sie zu Futterquellen außer Sichtweite (wir wissen immer schon, wo die Läden sind). Er funktioniert auch nachts (wir machen das Licht an). Er verrät ihnen die Anwesenheit und die Stimmung anderer Lebewesen (wir verwenden Sprache). Außerdem verrät er ihnen, welche anderen Lebewesen sich in der näheren Umgebung herumgetrieben und was sie in den letzten ein oder zwei Tagen getan haben (wir wissen es einfach nicht, solange sie keine Nachricht hinterlassen haben). Nashörner verdeutlichen anderen Tieren ihre Bewegungen und grenzen ihr Territorium ab, indem sie in ihrem Kot herumstampfen und überall auf ihrem Weg Geruchsspuren hinterlassen – was nicht die Art von Nachricht ist, die wir sonderlich schätzen.
Wenn wir unerwartet etwas riechen, das wir nicht sofort zuordnen können und das nicht besonders lästig ist, ignorieren wir es einfach, und das entspricht vermutlich der Reaktion des Nashorns, als es uns entdeckte. Es schien keine bestimmte Entscheidung wegen uns zu treffen, sondern einfach zu vergessen, daß es eine Entscheidung zu treffen hatte. Das Gras präsentierte ihm einen unermeßlich reichhaltigeren und interessanteren Sinneseindruck, also fuhr das Tier fort, es abzurupfen.
Wir krochen dichter heran. Als wir uns schließlich bis auf fünfundzwanzig Meter Entfernung genähert hatten, gab Charles uns ein Zeichen anzuhalten. Wir waren nah genug dran. Wirklich nah genug. Wir waren sogar atemberaubend nah dran.
Das Tier war an den Schultern ungefähr einen Meter achtzig hoch, und bis zum Hinterteil und den muskelbepackten Hinterbeinen nahm seine Höhe gleichmäßig ab. Schon die bloße Größe jedes einzelnen seiner Körperteile übte eine erschreckende Anziehungskraft auf den Verstand aus. Als das Nashorn ein Bein leicht bewegte, rollten die mächtigen Muskeln unter seiner dicken Haut so mühelos wie einparkende Volkswagen.
Da die Geräusche unserer Kameras es zu verwirren schienen, sah es wieder auf, aber nicht in unsere Richtung. Offenbar wußte es nicht, was es davon halten sollte, und nach einer Weile graste es weiter.
Der leichte Windhauch, der uns entgegengeweht hatte, begann die Richtung zu ändern, und wir wanderten mit und lagen dem Nashorn kurz darauf etwas frontaler gegenüber. Das erschien uns in unserer von visueller Wahrnehmung beherrschten Weltsicht etwas eigenartig, aber solange uns das Nashorn nicht riechen konnte, war es ihm völlig egal, wie wir aussahen. Dann drehte es sich von selbst noch etwas weiter in unsere Richtung, und plötzlich kauerten wir voll im Blickfeld des Monsters. Es schien ein bißchen nachdenklicher zu kauen, beachtete uns aber für den Moment nie weiter. Ein paar Minuten lang beobachteten wir es aus dieser Position, und auch unsere Kamerageräusche schienen nicht länger zu stören. Wir wurden, was Lärm betraf, etwas sorgloser, fingen an, uns über unsere Reaktionen zu unterhalten und brachten das Nashorn endlich doch dazu, etwas unruhiger zu werden. Es hörte mit dem Grasen auf, hob den Kopf und sah uns etwa eine Minute lang unbewegt an, wußte aber noch immer nicht genau, was es tun
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