Die letzten schönen Tage
bewußt, und im
Grunde kann man ihm auch nichts vorwerfen. Die Krise wäre, sagt der Arzt,
sowieso ausgebrochen. Aber ich möchte mit David nicht reden. Nicht, weil ich
böse auf ihn bin, sondern weil ich Sehnsucht nach ihm habe. So eine riesengroße
Sehnsucht. Es klingt entsetzlich und ist entsetzlich. Weihnachten allein zu
sein mit einem kranken Menschen, der mit den Augen rollt und jeden Moment so
aussieht, als ob er dich anspucken möchte. Der stundenlang flüstert, gerade so
leise, daß man nichts versteht. Oder was von den Beatles singt. Und wenn ich
ihn küsse, wendet er sich ab von mir, nennt mich Scheißemama. Ich bin nicht
sicher, wie lange ich das durchhalten kann. Die Ärzte raten, man soll im Winter
den Kranken Orangen mitbringen. Nicht wegen der Vitamine, sondern wegen der
Farbe. Die Farbe der Orange wecke Zuversicht.
28. Dezember
In der Probe heute
hat Hermannstein über den Chor abgelästert, der einer mitteleuropäischen
Hauptstadt nicht würdig sei. Ein guter Dirigent, aber so brutal und gemein. Ich
hatte vorher dreimal die Proben für die Gala geschwänzt, unter Ausnutzung aller
möglichen Ausflüchte, deswegen mußte ich mitsingen, wenn ich den Job nicht
riskieren will. Meine Stimme klingt brüchig und zerfasert, ich habe Angst, daß
Hermannstein das raushört und mich vor allen Kollegen zur Schnecke macht, wie
es neulich sogar einer Solistin passiert ist. Ich sang schon immer gern im
Chor. Es ist das Gefühl, von der Gruppe behütet zu sein, nicht ausgestellt,
exponiert, das ich so mag. Mein Ehrgeiz war nie ausgeprägt, aber er entsprach
meinem Talent, ich muß mir nichts vorwerfen. Und doch kommt es mir nun so vor,
als hätt ich mich in all den Jahren versteckt. Hätte mein Licht unter den
Scheffel gestellt – was ist eigentlich ein Scheffel?
Heute ging es Serge viel
besser, er nannte mich bei meinem Namen, bat darum, daß ich ihm das Mittagessen
mache. Wie er das meine, fragte ich ihn, es bekämen doch alle Patienten
dasselbe, entweder das vegetarische Gericht oder das andere. Es komme, sagte er,
darauf an, daß ich es ihm bringe, er sagte: kredenze. Das machte mich
glücklich. Er nannte mich Liebling und fragte, wie und wo wir ins neue Jahr
gehen wollten. Das hab ich dem Arzt mitgeteilt, der runzelte die Stirn und
meinte, daß es dauern könne, bis Serge die Klinik verlassen dürfe. Ich wurde
pampig, doch wenn ich so drüber nachdenke, geht es mir vor allem darum,
Silvester nach der Gala außerhalb der Klinik zu verbringen, mit Serge,
irgendwo. Es geht mir um mich, nicht um ihn. Apropos Scheißemama . Ich
habe es nie über mich gebracht, ihn über seine Eltern auszufragen, das Thema
war tabu. Immer hat er massiv geblockt, wenn das Gespräch darauf gekommen ist.
Ich liebe einen mir nur teilweise bekannten Menschen, diese Erfahrung zieht
mich zu Boden. Es ist grauenhaft, vernünftig sein zu müssen. Im schlimmsten
Fall werde ich für Serge sorgen, das ist klar, aber wie? Ich werde meine Eltern
um Unterstützung bitten. David bot sich überraschend an, mir zu helfen, auch
mit Geld, sieh an. Doch trau, schau, wem. Er stört.
29. Dezember
Ich habe Kati meine
Unterstützung angeboten und mußte mir Mühe geben, daß es nicht frivol klang,
also hab ich gesagt: Wenn du Unterstützung brauchst, jeder Art, egal wie ich
helfen kann, auch mit Geld, komm zu mir. Sie reagierte sehr abweisend, und ihr
Gesicht sagte lautlos, daß ich sie ja nur wieder ins Bett kriegen wolle – und
leider stimmt das nicht ganz. Ich wünschte, dem wär so. Wie sie denn Silvester
verbringen wolle, fragte ich, und sie: Nicht mit dir. Für ihre Verhältnisse
klang das beinahe brutal. Nie hat mich eine Frau so verächtlich und
herablassend behandelt, jedenfalls keine, die vorher so lammfromm und sanft
gewesen ist. Und nie hätte ich mir das gefallen lassen. Mein Bruder, dem ich
davon erzählte, meinte denn auch, daß das ja ganz neue Töne seien. Es stimmt.
Damit, gescheiterte Beziehungen und Affären schnell abzuhaken, hatte ich nie
ein Problem. Aber wenn mich eine Frau in den Wind schießt wegen so einem Wrack
wie Serge – naja.
31. Dezember
Ich habe
mitgesungen, unter Tränen, was hoffentlich niemandem auffiel, das Konzert ging
um elf zu Ende, nach völlig unnötigen drei Zugaben, ich nahm ein Taxi zur
Klinik und fand einen Serge vor, der lachte, mich umarmte, gar ein wenig Liebe
machen wollte. Kurzerhand beschloß ich, daß wir von hier abhauen sollten. Das
Personal war mit anderen Dingen beschäftigt, Serge zog sich
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