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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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schlafen
sollen und mit welchen nicht, und unter den Ameisen sind manche, die werden von
den anderen verehrt, deren Wuseln wird mit viel Interesse verfolgt, obwohl sie
nicht weniger sterblich sind. Andere werden verachtet, gemieden, sind zu nichts
mehr nütze, sind aus dem Spiel heraus, verenden am Rand und sollten keinen mehr
was angehen. Was würde sich der Alien erst wundern, wüßte er, daß manche
Ameisen ihr bißchen Lebenszeit hingeben, um es einem jener kranken Exemplare zu
widmen, zu opfern. Das ist komplett irrational, würde der Alien sagen. Die Idee
der Urmenschen, Götter in die Welt zu setzen, ist leicht nachvollziehbar
(potenzielle Priester wollten sich über ihre Mitmenschen stellen, wollten
bequem und geachtet leben und nicht Tiere jagen, Früchte pflücken oder in die
Schlacht ziehen müssen), sogar, daß es nur einen Gott gibt, der als Sieger
übrig geblieben ist, leuchtet halbwegs ein. Aber die Idee, jener Gott könne für
all die Kreaturen, die er geschaffen hat, gleichermaßen Liebe empfinden, ist
wirklich selbstgefällig bis zur Onanie, angesichts des Leidens ringsumher. Kati
ist jung, sie hat, wenn nichts Schlimmes passiert, noch fünfzig Jahre vor sich.
In den Augen des Aliens, der locker dreihunderttausend Jahre alt werden kann
(sonst hätte er den weiten Weg durchs All zu uns gar nicht geschafft), ist das
natürlich nichts. Ihm wäre egal, was Kati tut, mir aber nicht. Gestern hab ich
mich noch drüber aufgeregt, wer sich in sie ergossen hat, per Speichel oder
Sperma. Das ist so lächerlich. Was es genau genommen immer war, von Anfang an.
Ich will nicht schreien und wimmern wie ein beleidigtes Kind, das nicht mehr
mitspielen darf. Obwohl das Spiel, das Endspiel, vielleicht erst losgeht. Ein
heißes Finale! Angenommen, der Doktor sagt mir, daß ich noch drei Monate habe.
Juchei! Was für wilde Monate könnten das sein!? Wie viel könnte ich machen,
ausprobieren, woran mich immer die Rücksicht auf eine Zukunft gehindert hat?
Kati wäre dann ein Klotz am Bein. Aber jene letzte, aufgezwungene
Gestaltungsfreiheit – wöge sie das Alleinsein auf? Wäre ich Kati nicht endlos
dankbar, wenn sie bei mir bliebe bis zum letzten Atemzug? Ja, und immer wieder
ja. Ich bin eben keine Ameise, ich bin ein Schwein. Nichts wird uns je
hinwegtrösten über den Umstand, daß wir eines Tages plötzlich weg sind, und
mögen wir noch so vielen Menschen fehlen. Wenn die alle gemeinsam die Energie
besäßen, uns zurückzuwünschen, das wäre ein Konzept, genial und eines wahren
Gottes würdig. Dann, erst dann – würden wir alle so leben, wie es wünschenswert
wäre, würden uns Freunde machen ohne Ende und in Liebe durch diese Welt
wandeln. Und gäbe es den einen wahren, intelligenten, selbstkritischen und
lernfähigen Gott, der alles sieht und also meine Zeilen liest, er würde kurz
innehalten und sagen: HEY ! Dieser Serge ist zwar ein zum Krakeelen
neigender Amateur in meinem Terrarium, ein anfälliges und kurzlebiges Geschöpf
auf Kohlenstoffbasis, doch er hat recht, beeindruckend recht, was er da
vorschlägt, ist ein verdammt starkes Modell, eine Klassekampagne, so machen wir
das fortan. Aber nichts ändert sich, Gott gibt es nicht. Was zu beweisen war.
    30. Januar
    Serge geht es so
weit wieder gut. Das Zyprexa zeigt Wirkung, die aggressiven Schübe bleiben aus.
Die MRT wurde daraufhin gecancelt, weil ohne dringenden
Verdacht zu teuer. Er scheint nicht organisch krank zu sein. Die vielen kleinen
Zwangsstörungen, die er längst von sich aus überwunden hat, hätten ihn zu einer
überreflektierenden Person gemacht. Das könne vordergründig mit Tranquilizern
behandelt werden. Aber die Kasse zahlt – zum Glück ist Serge privat versichert
– eine Psychotherapie, eine Tiefenanalyse, die Serge auch nutzt. Er ist ganz
begeistert davon. Zweimal zwei Stunden pro Woche unterhält er sich mit Dr.
Huytens, das ist dieser Psychiater mit langem Rauschebart, ein zugewanderter
Niederländer, der sehr passabel Deutsch spricht, wie sich herausgestellt hat.
Was sich abzeichnet, ist Folgendes: Serge leidet darunter, in einem für seine
Begriffe minderwertigen Beruf tätig zu sein (er hätte lieber ein
Philosophiestudium begonnen oder eine echte künstlerische Betätigung, hat das
aber zugunsten vermeintlicher Sicherheiten gekickt), er leidet unter einer
kreativen Durststrecke, die sich durch die Überreflexion zu einer tiefen
Schaffenskrise ausgewachsen hat, eine vorgezogene Midlife-Crisis, zudem
belastet ihn immer noch ein

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