Die letzten schönen Tage
hinterläßt nur Chaos. Die Lüge ist eine großartige
Erfindung. Vor der Lüge waren nur Dinge in der Welt, die sind. Durch die Lüge
kamen Dinge hinzu, die nicht sind, aber doch auf uns wirken. Die Lüge knüpft
Brücken zwischen Sein und Nichts, gründet ein Zwischenreich, ein neues
Spielfeld, das man nur mit Erwägungen, Vermutungen und Theorien betreten kann.
Ich trank den starken Kaffee und aß ein Nuß-Croissant. Ehrliche Aktionen, mit
Dingen, die sind. Zugleich bat ich Kati, die Adresse der Klinik herauszusuchen,
weil ich Medikamente brauche, immer öfter überkomme mich die Lust, ihr ins
Gesicht zu schlagen. Da war sie ganz sprachlos. Ich weiß nicht, wer da aus mir
geredet hat. Im Mittelalter hätte man einen Exorzisten auf mich angesetzt.
Immerhin hab ich die Dinge endlich mal beim Namen genannt. Ob sie sind oder
nicht.
*
Wir fuhren ins
St.-Lukes-Hospital, verbrachten zwei Stunden im Wartezimmer, bevor Serge
endlich sein Medikament verschrieben bekam, das dann nicht vorrätig war. Es muß
erst bestellt werden, liegt aber morgen früh in der Apotheke abholbereit. Bis
dahin sollen ihm zwei Valium helfen. Neben Lyrica gegen Angstzustände und
Zyprexa, das er gut vertragen hat, bekommt er nun auch Lorazepam, außerdem eine
geringe Präventivdosis Haloperidol, falls psychotische Zustände auftreten
sollten. Der Psychiater stellte Serge außergewöhnlich viele Fragen und gab ihm
einen weiteren Termin. Ob an ihm eine MRT (= Magnetresonanztomographie) des Kopfes vorgenommen worden sei? Serge verneinte, und
der Arzt murmelte in seinen Bart, jaja, das sei teuer, die deutschen Kollegen
müßten wohl sparen. Er aber rate dringend dazu. Die geschilderten Symptome
ergäben für ihn kein stimmiges Bild, und vielleicht liege gar keine seelische
Erkrankung vor, sondern eine organische. Ich nahm das zuerst als hoffnungsfrohe
Nachricht, Serge aber wurde ganz bleich. Redete was von einem Gehirntumor. Ob
ich damit ernsthaft eine Hoffnung verbände? Er wolle die MRT machen lassen, ja, aber an seinem Hirn werde er niemanden herumschnippeln
lassen, er habe die grausigsten Geschichten gehört, von Leuten, die nach einem
Eingriff als komplett andere Menschen aufgewacht wären, ohne Gedächtnis, ohne
Geschichte. Ich redete ihm gut zu, der Arzt habe kein Wort von einem Tumor
gesagt, es gebe sicher noch andere Möglichkeiten, aber ich habe natürlich keine
Ahnung von diesem Gebiet, und so klang, was ich sagte, geplappert. Ich sah in
Serges Augen, daß es ihm auf die Nerven ging. Wir beschlossen, die Nacht
getrennt voneinander zu verbringen. Serge zieht in Gretas Zimmer.
Wahrscheinlich dramatisiert er seinen Zustand, wie alle Männer, und es wäre für
ihn besser, wir lägen beieinander, mit Hautkontakt. Aber ein bißchen Angst hat
er mir schon gemacht. Und nachdem ich letzte Nacht so wenig Schlaf bekam, kann
ich auf sein Geschnarche gut verzichten. Mit jemandem zusammen zu sein, ohne
genau zu wissen, mit wem man es zu tun hat, ist keine angenehme Vorstellung.
Serge bat mich darum, daß ich ihn umgehend verlasse, falls sich herausstellt,
daß es etwas Gravierendes ist, ohne Heilungschance. Es wäre ihm peinlich zu
wissen, daß ich meine kostbare Lebenszeit verschwende, um ihm beim Dahinsiechen
das Händchen zu halten. Er will dann lieber frei sein und einsam und aus
eigenem Entschluß sein Leiden verkürzen, will niemanden, den er liebt, da mit
reinziehen. Mitleid sei eben nicht geteiltes Leid, sondern doppeltes. Sein
Gerede trieb mir Tränen in die Augen, gerade weil er ganz leise redete,
unaufgeregt, er klang so vernünftig und nüchtern, um Souveränität bemüht. Ich
sollte ihm die Erfüllung seiner Bitte versprechen, sogar schwören, ich sagte,
so etwas dürfe er nicht von mir verlangen. Man kann keine Pläne schmieden für
eine derart unvorstellbare Situation. Da meinte er trocken – und es verletzte
mich –, ich hätte zu wenig Phantasie für diese Welt.
24. Januar
Ich surfe im
Internet und googele alle wissenwerten Fakten über Hirntumore. Es wirkt schon
immer wieder erstaunlich, ein wie fragiles Gebilde der Mensch ist – und daß es
trotz allem Exemplare unsrer Spezies gibt, die ohne irgendeine Krankheit
achtzig Jahre oder älter werden. Käme ein Alien zu Besuch auf diesen Planeten,
er würde sich sehr wundern. Da unten sähe er etliche Milliarden von uns wie
Ameisen herumwuseln, dauernd werden neue geboren, andere sterben, viele der
Ameisen machen sich mordswunder Gedanken, mit welchen Artgenossen sie
Weitere Kostenlose Bücher