Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
mit Streichhölzern spielen, aber alle in derselben Währung abrechnen. Die Erweiterung der Eurozone abseits aller wirtschaftlichen Bedenken war der katastrophal erfolgreiche Versuch, den Euro und mit ihm den Wohlfahrtsstaat aus dem kalten protestantischen Norden in den eher lebensfrohen Süden zu exportieren, ohne Rücksicht auf Kosten, Gewohnheiten und Mentalitäten. Auf die Frage, ob sie sich »ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten« vorstellen könnte, antwortete die Kanzlerin im Juni 2012 in einem Interview mit der ARD : »Ja, das haben wir heute schon in verschiedenen Bereichen … Das wird sich verstärken. Denn wer in einer Währungsunion zusammen ist, wird enger zusammenrücken müssen. Wir müssen offen sein, es immer allen ermöglichen mitzumachen. Aber wir dürfen nicht deshalb stehen bleiben, weil der eine oder andere nicht mitgehen will.«
Nur der Vorschlag, die Formel 1 mit dem Red-Bull-Seifenkistenrennen zusammenzulegen und den Fahrern zu raten, während des Rennens von der einen Klasse in die andere umzusteigen, wäre noch erfolgversprechender gewesen. Und je klarer wird, dass so etwas nicht funktionieren kann, umso schriller werden die Apelle, ja nicht am Status quo zu rütteln.
Am 23. Januar 2013 hielt der britische Premier David Cameron in London eine Rede, in der er die Rolle Englands innerhalb und gegenüber der EU auf den Prüfstand stellte. Es sei ihm bewusst, sagte der konservative Politiker, dass das Vereinigte Königreich manchmal als »streitlustiges« und »willensstarkes« Mitglied der EU angesehen werde. »Es ist wahr, dass unsere Geographie unsere Psychologie geformt hat. Wir haben den Charakter einer Inselnation – unabhängig, direkt, leidenschaftlich in der Verteidigung unserer Souveränität. Die britische Befindlichkeit können wir ebenso wenig ändern wie den Kanal trockenlegen. Wegen dieser Befindlichkeit begegnen wir der Europäischen Union eher pragmatisch als emotional. Die EU ist für uns ein Mittel zum Zweck – nicht ein Selbstzweck.«
Cameron betonte die Verbundenheit der Briten mit Europa – von Cäsars Legionen bis zum Kampf gegen den Nazismus – und die britische Tugend der Offenheit. »Wir waren schon immer ein Land, das sich der Welt zuwendet … Niemals möchte ich, dass wir die Zugbrücke hochziehen und uns von der Welt zurückziehen. Ich bin kein britischer Isolationist.«
Allerdings, die Enttäuschung der Briten über die EU sei »heute so groß wie noch nie«. Dafür gebe es eine Reihe von Gründen: »Die Leute haben das Gefühl, dass sich die EU in eine Richtung entwickelt, der sie niemals zugestimmt haben. Sie ärgern sich über Einmischung in unseren nationalen Alltag, durch in ihren Augen unnötige Regeln und Regulationen. Sie fragen sich, was das alles bringen soll. Warum können wir nicht einfach haben, wofür wir einst gestimmt haben – einen gemeinsamen Markt?«
Deswegen werde er sich dafür einsetzen, versprach der Premier, dass im Vereinigten Königreich eine breite Debatte über die Art und Weise der Zugehörigkeit des Landes zur EU geführt werde, an deren Ende, in drei bis vier Jahren, eine Volksabstimmung abgehalten werden soll.
Ich habe Camerons Rede zweimal gelesen und mir das Video auf YouTube angesehen. Ich habe darin nicht einen Satz gefunden, den man als »europafeindlich« auslegen könnte. Es sei denn, man nimmt ihm übel, dass er auf eine Selbstverständlichkeit hinwies: »Die größte Gefahr für die EU kommt nicht von denen, die für einen Wandel einstehen, sondern von jenen, die neue Gedanken als Ketzerei anprangern.« Es habe in der langen Geschichte Europas Ketzer gegeben, »die am Ende nicht ganz Unrecht hatten«, stellte Cameron mit dem bekannten britischen Understatement fest.
Zwei Tage später, am 25. Januar 2013, gab der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, der »Welt« ein Interview, in dem er Camerons Rede auseinandernahm. Er muss allerdings eine ganz andere Rede gelesen haben als die, die der Brite gehalten hatte. Es gefalle ihm nicht, sagte Schulz, dass »Cameron Europa droht, indem er ein Ultimatum stellt und sagt: Wenn ihr euch nicht bewegt, dann garantiere ich für nichts«. Die »Operation« sei »der Innenpolitik geschuldet, nicht Europa«, Cameron habe schon die nächsten Wahlen in seinem Land im Blick. »Das nehme ich ihm übel.«
Wenn ich mich nicht sehr irre, ist es nicht ungewöhnlich, dass ein gewählter Regierungschef die Interessen seines Landes vertritt und dabei
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