Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
damit sei die »drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone womöglich unregierbar geworden«. Und falls das Land »doch noch regiert werden sollte, dann bestimmt nicht so, wie es sich die Euro-Retter in Brüssel oder Berlin erhofft hatten«.
Aber wer weiß denn schon, was Brüssel will, wenn Brüssel selbst nicht einmal weiß, was es wollen soll. Auf der einen Seite keine neuen Schulden, denn die Verschuldung ist an dem ganzen Desaster schuld. Sie kann und darf nicht weiter steigen, sagen alle, angeführt von der eisernen deutschen Kanzlerin. Auf keinen Fall dürfen Krisenstaaten wie Griechenland und Italien weiter in die Rezession abgleiten, denn ohne Wachstum droht eine »Abwärtsspirale« mit verheerenden Konsequenzen für den Arbeitsmarkt – Jugendarbeitslosigkeit! – und den »sozialen Frieden«. Also keine »Austeritätspolitik« à la Reichskanzler Brüning, denn Austerität führe zwangsläufig zu Anarchie, und dann war es das mit dem Frieden. Aber gleichzeitg soll gespart werden. Also hören wir, wie vom neuen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta, die üblichen paradoxen Parolen: von »alle Sparzusagen einhalten« bis »in das Wachstum investieren« – wieder einmal Gas und Bremse gleichzeitig. Die »Experten« beweisen jeden Tag aufs Neue, dass sie keine Ahnung haben, was sie tun sollen. Heute zündeln sie, morgen spielen sie Feuerwehr. Dabei werden sie brav von denjenigen unterstützt, die ihnen eigentlich auf die Finger schauen sollten.
Wer war für das Wahldesaster in Italien verantwortlich? »Italiens Wähler.« Wer sonst? Das war der Tenor fast aller Kommentare, von der FAZ bis zur taz, von der SZ bis zur FR . »Unregierbar« war das Wort des Tages, als wäre Italien jemals regierbar gewesen. Nun sind Wahlen in der Tat immer riskante Unternehmen. Manchmal gehen sie sogar ganz anders aus, als die Demoskopen es vorhergesagt haben. Verantwortlich für solche Pannen sind nicht die Demoskopen, sondern die Wähler. Deswegen wäre es viel einfacher und effektiver, bei den Meinungsforschern nicht nur die Stimmung im Land erkunden, sondern sie gleich die Ergebnisse festlegen zu lassen.
Eine Alternative dazu wäre ein gesamteuropäisches Wahlrecht. Wenn das Ergebnis der Wahlen in Italien von so schicksalhafter Bedeutung für ganz Europa ist, dann müssten die Europäer bei den Wahlen in Italien mitwählen dürfen, was freilich zur Folge hätte, dass dann die Italiener das Recht beanspruchen würden, in Frankreich, Deutschland, Holland usw. mitmachen zu können, was in kürzester Zeit zu italienischen Verhältnissen in ganz Europa führen würde. Ist es nicht seltsam, dass noch kein Politiker auf die Idee gekommen ist, die europäische Integration auf diese Weise voranzutreiben? Wenn wir schon alle im selben Boot sitzen, wie uns täglich versichert wird, dann sollten wir alle im gleichen Takt und in dieselbe Richtung rudern – und nicht die einen vor und die anderen zurück.
Das Beispiel dekonstruiert das europäische Dilemma bis auf den Kern. Mehr Europa, mehr Integration bedeutet mehr gegenseitige Abhängigkeit – und weniger Möglichkeiten, flexibel auf Unwägbarkeiten und überraschende Ereignisse zu reagieren. Der aus dem Libanon stammende amerikanische Investor Nassim Nicholas Taleb, der die jetzige Finanzkrise vorhergesagt und von ihr profitiert hat, schlägt deswegen vor, dass wir uns »antifragil« verhalten. Wir können, sagt er, den Problemen mit einer »robusten« Aufstellung nicht beikommen. Der Zentralismus und die verordnete Gleichmacherei haben Europa immer krisenanfälliger gemacht. Lockere Verbindungen von kleinen Einheiten sind dagegen »antifragil« und können leichter auf Unvorhergesehenes reagieren.
An sich keine ganz neue Erkenntnis. Große Schiffe können mehr Tonnage transportieren, aber wenn eines untergeht oder auseinanderbricht, wie die Exxon Valdez vor der Küste von Alaska, dann ist der Schaden gewaltig. Die Fracht auf kleinere Schiffe zu verteilen, mag die Kosten pro Tonne erhöhen, verringert aber das Risiko im Katastrophenfall.
Könnten also die Italiener auf eigene Rechnung wirtschaften, würden sie vielleicht weniger Wein, Mortadella und Olivenöl exportieren, aber sie wären nicht in der Lage, den Euro auf Talfahrt zu schicken. Die EWG und die EG waren Kooperativen, in denen Produkte gemeinsam vermarktet wurden, die EU beziehungsweise die Eurozone ist zwar noch keine Fiskal-, dafür aber eine Transferunion, in der die einen mit Murmeln und die anderen
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