Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
unübersichtlichen Netz von Institutionen«. Die Krise, sagte Gauck, habe »mehr als nur eine ökonomische Dimension«. Sie sei »auch eine Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europa«.
Es war, wie immer bei Gauck, eine ausgewogene Rede. Er räumte Defizite und Fehler ein. Er ging sogar so weit zu sagen, Europa fehle »die große identitätsstiftende Erzählung«: »Wir haben keine gemeinsame europäische Erzählung, die über 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Ja, es stimmt: Wir Europäer haben keinen Gründungsmythos nach der Art etwa einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren konnte. Wir haben auch keinen Gründungsmythos im Sinne einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten. Die eine europäische Identität gibt es genauso wenig wie den europäischen Demos, ein europäisches Staatsvolk oder eine europäische Nation.«
Wenn es also keine europäische Identität gibt, kein europäisches Staatsvolk und keine europäische Nation – was gibt es dann?
Einige praktische Vorteile, die Gauck aufzählte: »Wir reisen von der Memel bis zum Atlantik, von Finnland bis nach Sizilien, ohne an irgendeiner Grenze den Reisepass zu zücken. Wir zahlen in großen Teilen Europas mit einer gemeinsamen Währung und kaufen Schuhe aus Spanien oder Autos aus Tschechien ohne Zollaufschläge. Wir lassen uns in Deutschland vielerorts von polnischen Ärzten behandeln und sind dankbar dafür, weil manche Praxen sonst schließen müssten. Unsere Unternehmer beschäftigen zunehmend Arbeitskräfte aus allen Mitgliedsländern der Union, die in ihren eigenen Ländern oft gar keine Arbeit oder nur Jobs unter sehr viel schlechteren Bedingungen finden würden. Und unsere Senioren, sie verbringen zum Teil ihren Ruhestand an Spaniens Küsten, manche auch an der polnischen Ostsee. Mehr Europa ist also auf erfreuliche Weise Alltag geworden.«
Gaucks Aufzählung war bei weitem nicht vollständig. Auf der Habenseite fehlten die polnischen Putzfrauen, die in jedem zweiten Berliner Haushalt für Ordnung und Sauberkeit sorgen. Auf der Sollseite die Hütchenspieler aus dem Kosovo, die zwangsweise rekrutierten Prostituierten aus Ungarn, die Roma aus Bulgarien und Rumänien, die Angehörigen der Russenmafia, die auf eine rätselhafte Weise den Sprung über die Schengen-Grenzen geschafft haben. Denn auch sie können alle von der Memel bis zum Atlantik, von der Etsch bis an den Belt reisen, ohne an irgendeiner Grenze den Pass zücken zu müssen. Eine der Grundregeln der Dialektik, dass es keine Vorteile ohne Nachteile gibt, war von Gauck konsequent übersehen worden.
In der Analyse hat also unser Bundespräsident den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Tenor seiner Rede kommt dem sehr nahe, was auch ich denke und schreibe. Er formuliert nur feiner. Aber statt die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen zu ziehen und eine Debatte anzuzetteln – pardon: anzuregen –, biegt er in das politisch-korrekte Fahrwas ser ein. Es ist nicht alles optimal, aber wenn wir uns Mühe geben, kann es noch was werden …, sagt ein Mann, dem die Freiheit, auch die des Denkens, doch über alles geht und der den Untergang eines visionären Systems, das auf Täuschung und Selbsttäuschung beruhte, hautnah miterlebt hat.
Gegen Ende seiner Rede, nachdem er versichert hatte, »mehr Europa heißt in Deutschland nicht: deutsches Europa, mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland!«, wurde der Bundespräsident nämlich richtig konstruktiv und phantasievoll. Was Europa fehle, sei eine »gemeinsame Verkehrssprache«; damit ließe sich »eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinander« umsetzen, »so etwas wie Arte für alle«, also nicht ein elitärer Kulturkanal, sondern ein »Multikanal mit Internetanbindung« auf dem »mehr gesendet werden (müsste) als der Eurovision Song Contest oder ein europäischer Tatort«, nämlich: »Reportagen über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spanien oder Familienförderung in Dänemark«. Das klingt genauso überzeugend wie der gute Rat in den 50er-Jahren, man solle sich für den Fall eines Atomangriffs eine Aktenmappe über den Kopf halten.
Ja, ein solches Programm
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